Als in Zeitschriften noch Schachkolumnen zu finden waren, in den 70er Jahren, geriet auch ein gewisser Richard Lutz in den Bann dieses uralten Spiels. Der Junge sei ein „herausragendes Talent“ gewesen, erinnert sich Schachfunktionär Klaus Deventer, heute Vizepräsident Sport des Deutschen Schachbundes, „er hätte das Zeug zum Großmeister gehabt“. Immerhin wurde er deutscher Vize-Jugendmeister und Pfalzmeister der Erwachsenen. Bei der Bundeswehr fand er Unterschlupf in einer Sportfördergruppe.
Lutz‘ Taktik? Er sei nie der stürmische Typ gewesen, sagt Weggefährte Deventer, „keiner, der alle Brücken abbricht und auf Gedeih und Verderb auf Angriff spielt“. Er habe stets „ruhig auf seine Chance gewartet“.
Womit auch das Muster seiner Karriere treffend beschrieben ist.
Richard Lutz brachte es bei der Bahn zum „obersten Zahlenmenschen“, wie er gern sagt. Als Chef wurde er nie gehandelt. Wenn der Vorstand zu Empfängen lud, lief es für Lutz immer gleich ab: Alle scharten sich um Konzernlenker Rüdiger Grube, kaum einer um den Kassenwart. Aufsichtsräte erlebten ihn als stets gut präparierten Finanzexperten. Wobei es auch bleiben sollte.
Bis plötzlich die große Chance kam.
Ende Januar schmiss Rüdiger Grube hin, enttäuscht, dass er trotz eines gewaltigen Wahlkampfs nur zwei weitere Amtsjahre bekommen sollte anstatt der geforderten drei. Lutz rückte satzungsgemäß als Interimschef nach. Und wurde keine zwei Monate später als Dauerlösung ausgerufen.
Jetzt hat er gar eine Doppelrolle: CEO und CFO in einem. Damit ist er mächtiger als jeder seiner Vorgänger. Aber warum gerade er?
Der verhinderte Schach-Großmeister Lutz steht genau da, wo Politiker und Aufseher einen Bahn-Chef jetzt sehen wollen: fern aller Extreme. Gefragt ist weder der Furor eines Hartmut Mehdorn noch die Wolkigkeit eines Rüdiger Grube. Sie wollten einen, der vollen Einsatz bringt und dabei uneitel bleibt. Der erfahren ist und zugleich etwas Unverbrauchtes ausstrahlt. Einen Lutz.
Fern des roten Teppichs Fleißig war er immer, mit Hang zur frühen Stunde. Sein Tagwerk beginnt oft schon morgens um sechs. Eine Schwäche für rote Teppiche, der sein Vorgänger erlag, ist dem Neuen fremd. „Richard und seine Frau mögen das einfache Leben“, meint ein alter Kollege. Es ziehe ihn weder zu Events noch zur Prominenz. Sein Freundeskreis bestehe aus „ganz normalen Leuten“, darunter ein Lokführer. Nur in seinem Verein, der Emanuel-Lasker-Gesellschaft, die dem einzigen deutschen Schachweltmeister huldigt, trifft er schon mal auf große Namen wie den Ex-Champion Anatoli Karpow. Erfahrener als Lutz, der seit gut 23 Jahren im Unternehmen ist, kann ein DB-Manager kaum sein. Frisch gehalten hat er sich trotzdem.
Der Mann ist das beste Argument für die Rente ab 70. Mit seinen 53 Jahren wirkt er so unverbraucht, als hätte er das Leben noch vor sich. Das Gesicht glatt, das Haar voll, eine leichte Krause unterstützt den jugendlichen Eindruck. Die Haltung ist tadellos, das Lächeln unbekümmert. Wenn Lutz sich für die Fotografen zu einem ICE gesellt, sieht der Bahn-Chef aus wie ein netter Schaffner auf erster Dienstfahrt.
Die Kraftreserven wird er brauchen. Denn auch wenn es zuletzt ein paar freundliche Meldungen gab — das größte deutsche Staatsunternehmen (40 Milliarden Euro Umsatz, gut 300 000 Beschäftigte) durchläuft prekäre Zeiten. Der Konzern ist bis an die Grenze des Erträglichen verschuldet, mit fast 20 Milliarden Euro. Damit erinnert er schon wieder fatal an die alte Bundesbahn.
Die wichtige Regionalbahnsparte ist zu teuer für den Wettbewerb. Die Güterbahn bietet ein Bild des Jammers. Allein im vergangenen Jahr gingen 7,6 Prozent Frachtaufkommen verloren. Dabei wollte die DB doch mal mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Obendrein die ewigen Ärgernisse: verpasste Anschlüsse, Zugausfälle, Chaos am Bahnsteig.
Von Selbstanklagen hält der Mann an der Spitze indes gar nichts. Die Präsentationen des neuen Weichenstellers sind Lehrstunden in positivem Denken. Es regnet Eigenlob für kleine Fortschritte („die Bahn hat weiter an Attraktivität gewonnen“) und fast patzige Selbstbestätigung („der Kurs stimmt“).
Überall klingt ein „keine Panik!“ durch; die sublime Versicherung, die Bahn habe schon ganz anderes gemeistert. Eine naheliegende Einstellung für jemanden mit seinem Hintergrund — er stammt aus einer Bahnerfamilie. Seine Mutter arbeitete als Sekretärin bei der Bahn, sein Vater in einem Ausbesserungswerk. Ein Onkel war Lokführer, ein Cousin ist es noch, die zwei Jahre ältere Schwester absolvierte eine Ausbildung bei der DB. Die Aufgabe des Bahn-Chefs sei für ihn daher „eine Herzensangelegenheit“, versichert der Kopfmensch.
Richard Lutz wuchs im beschaulichen Landstuhl in der Pfalz auf. Analytisch hochbegabt, kam er problemlos durch die Schule und durchs Studium der Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Diplom 1989 diente er noch für rund vier Jahre als wissenschaftlicher Mitarbeiter, legte die Grundlagen für eine Promotion, die er später neben dem Beruf abschloss. In die Unizeit fallen auch seine Heirat und die Familiengründung. Das Paar hat drei inzwischen erwachsene Kinder.
Er hätte gewiss auch einen glanzvolleren Arbeitgeber finden können als die Bahn. Doch gerade das Unfertige dieses Reformhauses reizte ihn. Die Frage, sagt er, sei flir ihn gewesen: „Gehst du zu einem gestandenen Konzern oder zu einem Unternehmen im Wandel, wo du mehr gestalten kannst?“ Die DB begann 1994 als Deutsche Bahn AG noch mal von vorn. Lutz war von Tag eins an dabei.
Ein Fan seines Chefs Als Controller gekommen, stieg er bald zur rechten Hand des Finanz-Chefs auf, des legendären Diethelm Sack. Das- Paar blieb als gemischtes Doppel in Erinnerung. Bei Budgetgesprächen saßen sie immer nebeneinander: hier der gestrenge Diethelm Sack, dort der freundliche junge Mann, der wenig sagte, aber stets im Bilde schien.
Als Sack 2010 abtrat, war klar, dass Lutz übernehmen würde. Mit ihm wurden die Finanzen der Bahn transparenter, zumindest nach innen. „Ich fand manchmal“, mosert ein alter Kollege, „dass er schon zu viele Kennziffern liefert.“
Ungeteilt gut kam der Kulturwandel an. Gespräche mit dem Schatzmeister mutierten von der Abfrage zum Dialog. „Lutz hat sich da als Teil einer neuen Generation verstanden“, erzählt der Ex-Chef einer DB-Tochter, „es sollte nicht mehr so von oben herab regiert werden.“
Vermutlich wurde Lutz gerade deswegen zu einem Fan seines Vorgesetzten Rüdiger Grube. Denn der schlug nach den wüsten Mehdorn-Jahren einen ganz neuen Ton an. Wie nah sie einander standen, blitzte auf, als Lutz im März die Bilanz vorstellte und seinem Vorgänger mit belegter Stimme dankte. Es klang fast nach einer Grabrede, so viel Rührung schwang mit.
Besonders eine Neuerung der Ära Grube hat sein Leben verändert: der Servicetag. Jede Führungskraft muss einmal jährlich an die Basis – auf dem Gleis, im Werk oder in der Station. Was für Lutz 2012 zu einer prägenden Begegnung führte.
Dieter Puhl, Leiter der Bahnhofsmission am Berliner Bahnhof Zoo, erinnert sich noch genau anjenen Juni-Tag, als ihn ein vertrauter DB-Mann anrief. „Ich hab da zwei Leute aus dem Konzern“, sagte der, „die machen hier einen Servicetag. Wir kommen mal vorbei.“
Die Bahnhofsmission gehört zwar nicht zur DB, legt aber Wert auf gute Nachbarschaft. Puhl stimmte sofort zu. Wer genau kommen sollte, bekam er nicht ganz mit; wohl irgendein Personalmensch und einer aus der Buchhaltung. 20 Minuten, dachte der Gastgeber, würden sie bleiben. Nach zehn Minuten war man beim Du. Die beiden Bahner stellten Fragen über Fragen, vor allem zur Hilfe für die Obdachlosen, mit denen sie sich ebenfalls unterhielten, mehr als drei Stunden lang.
Am späten Abend gegen 23-30 Uhr erhielt Puhl dann eine Mail, die mit einem „Lieber Dieter!“ anfing und einem „Du hörst von uns!“ aufhörte. Signatur: Dr. Richard Lutz, Vorstand Finanzen.
Tatsächlich ließ die Bahn kurz darauf von sich hören, durch Rüdiger Grube. Sie fördert seither die von Spenden abhängige Einrichtung, beteiligte sich etwa an den Kosten für neue Sanitärräume. Lutz geht inzwischen noch viel weiter, stellt sich an jedem Servicetag hinter die Ausgabe der Mission (selbst als Bahn-Chef wieder) und hilft auch ganz privat, jenseits besonderer Anlässe. Mit Dieter Puhl verbindet ihn eine herzliche Freundschaft.
Die Nähe zwischen Lutz und seinem ehemaligen Chef Rüdiger Grube erstreckt sich freilich auf mehr als nur ein paar Impulse für die Firmenkultur. Als Vorstandsmitglied trug der Finanzmann viele Entscheidungen mit, die fragwürdig wirken, und das nicht erst heute.
Zoff um Prognosen Da wurde der Fernverkehr ausgedünnt und eine Preisrunde nach der anderen gefahren. Da wurde die marode Güterbahn mehr gesundgeredet als saniert. Da beschwor die Strategie „DB 2020″ einen utopischen Umsatzsprung auf 70 Milliarden Euro.
Überhaupt sorgten trügerische Vorschauen aus Lutz‘ Ressort für viel Ärger. Aufsichtsräte klagten über Mittelfristplanungen, die schon im ersten Jahr von der Realität überholt wurden. Lutz ermahnte die Bereichsmanager regelmäßig. Sein Ausspruch „Dass mir keiner die Planung beschädigt!“ wurde intern zum geflügelten Wort. Half aber wenig.
Zwei Konsequenzen zieht der Konzernchef aus der Vergangenheit. Er schaut erstens stur nach vorn. Und meidet zweitens jedes große Versprechen. Über die Lippen geht ihm nur noch ein zahmes Gelübde: „Wir arbeiten beständig daran, jeden Tag ein bisschen besser zu werden.“ Für den Moment mag das reichen. Die Politik verlangt von der Bahn jetzt erst mal Ruhe. Der unaufgeregte Lutz ist ihr Mann.
Zumal er sie auch sonst gut bedient. Beim Baustart einer neuen S-Bahn-Strecke in München pries der Manager die Künste von Verkehrsminister Alexander Dobrindt: „Ihnen ist es gelungen“, schmeichelte er, „den gordischen Finanzierungsknoten zu lösen!“ Als Finanzer dürfte Lutz zu gut wissen, dass er die Politik noch braucht. Oder vielmehr: die Staatskasse. Ohne großzügige Hilfen wird die Bahn ihre Modernisierung nicht bezahlen können.
Die Aufsichtsräte freuen sich derweil über die Sachlichkeit des Bahn-Chefs; über seine netten handschriftlichen Bemerkungen am Briefrand; und über ungewohnten Humor. „Nach so viel Vorschusslorbeeren“, flachste Lutz zum Einstand, „kann ich den positiven Eindruck ja eigentlich nur noch beschädigen.“ Über ein Buch mit Bahn-Karikaturen („Der ganz normale Bahnsinn“), das ihm der Fahrgastverband Pro Bahn schenkte, soll er sich ehrlich amüsiert haben.
Doch die nächste Krise kommt bestimmt. Der Zyklus von Sanierung, Geschäftseinbruch und neuem„Jetzt aber wirklich“-Programm gehört seit zwei Jahrzehnten zum verlässlichen Schema der DB. Daraus ausbrechen kann Lutz nur, wenn er Grundsätzliches wagt. Vor allem den Rückschnitt aufs Kerngeschäft.
Vor knapp zwei Jahren hat er es schon einmal zart versucht. Gemeinsam mit Grube wollte er einen Teilverkauf der Spedition DB Schenker und der Auslandstochter DB Arriva einfädeln. Als eine Debatte losging, ob der Verkaufserlös nicht an den Bund abgeführt werden müsste, wurde das Manöver abgesagt.
Auch dass die Harmonie im Vorstand hält, ist nicht ausgemacht. Eigentlich war Ronald Pofalla als Grubes Nachfolger vorgemerkt. Kenner glauben, dass der Ehrgeiz des Infrastrukturvorstands nur im Dämmerschlaf liegt. Sobald Lutz ein großer Patzer unterläuft, wacht Pofalla wieder auf.
Einen gewissen Machtinstinkt scheint indes auch der Amtsinhaber zu besitzen. Auf Wunsch der Politik soll der Vorstand um zwei Ressorts erweitert werden: Güterverkehr und Digitalisierung. Für beide Posten hat Lutz interne Kandidaten vorgeschlagen. Leute, die ihm nicht gefährlich werden können: DB-Cargo-Manager Jürgen Wilder und Manuel Rehkopf, bisher Leiter der Konzernentwicklung.
Daraus wird wohl nichts. Beide Vorschläge sind Männer. Ein Staatskonzern wie die DB kann sich ein rein männliches Vorstandsteam aber nicht mehr leisten. Da fehlt Lutz noch das politische Feingefühl.
Um seinen Stand zu festigen, sagen Insider, werde der Vorstandsprimus auf Sicht sein Zweitmandat als Finanzvorstand abgeben müssen. Zu groß ist die Belastung, auch wenn er frohgemut versichert, er könne beide Jobs „zu 150 Prozent“ erledigen.
Ein paar Monate wird Lutz aber noch Extraschichten fahren müssen. Nur gut, dass sein Arbeitsweg nicht mehr so lang ist. Vor rund einem Jahr zog er vom östlichen Stadtrand ins Berliner Zentrum um, ganz in die Nähe des Bahn-Towers. Womöglich hat der Schachspieler — in vorausschauendem Denken geschult — da schon etwas geahnt.