Indische Bauern demonstrieren seit einigen Monaten gegen eine Agrarreform, die den Markt liberalisieren will. Für die Protestaktion haben sich hunderttausende Bauern am Stadtrand der indischen Hauptstadt Neu-Dehli auf den Straßen versammelt. Einige stehen mit ihren Traktoren bereits seit Wochen an der Außengrenze zur Stadt, haben dort ihr Lager aufgeschlagen, spielen Karten und essen zusammen. Sie kommen vor allem aus den Nachbar-Bundestaaten Punjab, Uttar Pradesh und Haryana. Nur einige Meter weiter haben sich die Polizist*innen angesiedelt, mit Absperrgittern und Bodenbarrieren.
Die Landwirtschaft soll in dem Land mit über einer Milliarden Einwohner*innen, liberalisiert werden. Gurjeet Singh, ein protestierender Bauer, erklärte der Tagesschau: „Wenn die Regierung das Ganze wirklich durchsetzt, dann verlieren wir alles. Dann haben wir nichts mehr, von dem wir leben können.“ Die neuen drei Agrargesetze wurden bereits im September verabschiedet. Besonders eins treibt die Bauern auf die Straße, welches „privaten Akteuren den Handel mit Agrarprodukten außerhalb staatlicher Aufsicht“ erlaubt, wie die Zeit erklärt. Das heißt die privaten Händler*innen kaufen direkt bei den Bauern und bestimmen ihre eigenen Märkte. So können die privaten Unternehmer*innen beispielsweise ihre Preise selber bestimmen. Angelegenheiten der Landwirtschaft waren eigentlich immer Sache der einzelnen Bundestaaten, doch jetzt hat die Regierung für das ganze Land entschieden, da sie durch die neuen Gesetze auf mehr Wettbewerb und somit auf mehr Fortschritt hofft. Der Premierminister Modi will somit das Einkommen der Bauern verdoppeln und genug Geld für die Digitalisierung der Agrarwirtschaft einnehmen. Die Landwirtschaft beschäftigt in Indien fast die Hälfte der Bevölkerung, aber kann nur einen Wert von 15 Prozent des Bruttoinnlandproduktes verzeichnen. Ein Fünftel der Bauern lebt unter der Armutsgrenze und viele können von ihrer Ernte nicht einmal selber leben.
Bauernproteste gibt es häufig in dem Land, die bis in die 1940er Jahre zurückreichen. Unter der damaligen britischen Herrschaft gab es „eine große Hungersnot“, so die Tagesschau. In den 70ern beschloss dann die Regierung die Agrarwirtschaft stark zu unterstützen und setzte Mindestpreise für Nahrungsmittel wie Reis oder Weizen fest. Trotz dieser festgelegten Preise leben viele Bauern in Armut und können nur wenig erwirtschaften. Mit der nun festgelegten Option zur Änderung des Marktes fürchten sie, dass der einst festgelegte Mindestpreis abgeschafft wird. Der Landwirtschafts-Experte Devinder Sharma erklärt: „Die Sorgen der Bauern sind berechtigt. Eine Liberalisierung der Landwirtschaft hat schon in anderen Ländern nicht funktioniert. Warum sollte das in Indien anders sein?“ Er schlägt eine Alternative vor: Die Mindestpreise, welche eigentlich schon in den 70er Jahren beschlossen wurden, sollen gesetzlich geregelt werden, damit ein Grundeinkommen für die Landwirt*innen gesichert wird. Doch die indische Regierung nimmt diese Alternative nicht zur Kenntnis und hat bisher nur angeboten, dass der Eintritt der Reform 18 Monate nach hinten verschoben wird. Auch die Ökonomin Sudha Narayanan äußerte sich kritisch zu der Reform: „Im Moment herrschen kaum Regeln für den Handel zwischen privaten Akteuren auf dem Agrarmarkt.“ Sie erklärt, dass sich der Staat immer weiter aus seiner Verantwortung zurückziehe und in das föderale System des Landes eingreife. „Für die Bauern ist der ganze Prozess ein Sinnbild für Machtzentralisierung. Sie haben Angst, ihr Mitspracherecht zu verlieren.“ Die Agrarreform ist ohne jegliche Debatte durch das Parlament gegangen und schließlich beschlossen worden.
An den Protestaktionen gegen die Reform beteiligen sich nicht nur indische Bauern, die Solidarität ist auch international äußerst groß. Die Klimaaktivistin Greta Thunberg, die Sängerin Rihanna und die Anwältin Meena Harris, die Schwester der neuen US-Vizepräsidentin, beteiligen sich online an den Demonstrationen. Rihanna twitterte einen Link zu einem CNN-Artikel über die Proteste und schrieb: „Warum reden wir nicht darüber?“ Greta Thunberg rief zu friedlichen online-Protesten in Form von Hashtags und Petitionen auf. Dafür erstellte sie ein sogenanntes „Toolkit“-Dokument, welches erklärt, wie virtuell demonstriert werden kann. Nachdem die 22-jährige indische Klimaaktivistin Disha Ravi das Dokument teilte, wurde sie festgenommen und für fünf Tage in Untersuchungshaft geschickt. Der Vorwurf: Anstachelung zu gewalttätigen Protesten.
Die Bauern wollen Vorort noch weiter protestieren. Gurjeet Singh versichert: „Ich bleibe so lange hier, bis die Regierung die Reform wieder zurücknimmt. Vorher fährt keiner von uns nach Hause.“