Von allen Seiten hagelt es Kritik an Europa, die EU steckt in der Krise und die USA haben den einstigen starken Bündnispartner abgestuft. Es hagelt Einfuhrzölle in Verbindung mit Strafzöllen, es offenbaren sich immer neue Problemfelder, die Automobilwirtschaft steht am Pranger und die europäischen Länder sind uneins. In der politischen Ausrichtung, bei der Asyl- und Flüchtlingsfrage, bei der Kooperation mit Amerika. Dazu hat der Kontinent massive Wirtschaftsprobleme mit den Krisenherden Italien und Griechenland. Zwischenzeitlich hatte man den Eindruck, es tut sich etwas. Im positiven Sinne. Doch von einem Anfang, dem ein Zauber innewohnte, ist Europa weit entfernt. Lange galt: Es geht zwar langsam voran, aber dafür stetig nach oben. Doch seit Ausbruch der Euro-Krise, seit Griechenlandrettung und Flüchtlingsdrama, seit Brexit und dem Aufstieg der Rechtspopulisten, befinden sich EU und Euro-Raum im Dauerkrisenmodus. Noch immer sind Millionen Jugendliche im Süden Europas ohne Arbeit. Noch immer ist das künftige Verhältnis zu Großbritannien ungeklärt. Noch immer schwelt die Niedrigzinskrise. Und noch immer kommen beinahe im Wochentakt neue Probleme hinzu. Donald Trump erklärt der EU den Handelskrieg. Die populistische Regierung in Rom setzt mit milliardenschweren Plänen die Währungsunion aufs Spiel. Seit dem Sturz des konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy ist unklar, wie es mit Spanien weitergeht.
Der Interessenschwenk der USA
Es ist die bittere Ironie des europäischen Integrationsprozesses: Der Euro, der die Staaten unwiderruflich zusammenschweißen sollte, hat sich als politischer und wirtschaftlicher Spaltpilz erwiesen. In vielen Ländern, von Frankreich bis Griechenland, liegen die traditionellen Parteiensysteme in Trümmern. Überall haben Populisten Zulauf, bestimmen sie die politische Agenda. Auch deshalb steht die EU vor dem vielleicht größten Stresstest ihrer Geschichte. Während sie von einer Krise zur nächsten hetzte und zehn Jahre um sich selbst kreiste, hat sich das globale Umfeld dramatisch verändert. Die USA, seit Jahrzehnten Schirmherrin des Freihandels und Schutzmacht eines militärisch nahezu impotenten Europas, haben ihr Primärinteresse an den transatlantischen Beziehungen zusehends verloren — bis das Pendel unter Präsident Donald Trump zuletzt aggressiv in Richtung Desinteresse ausschlug.
Stattdessen interessieren sich die USA für die Newcomer auf der politischen Weltbühne, für China vor allem, das immer selbstbewusster Machtansprüche formuliert und technologisch rasant aufgeholt hat. Was ökonomisch bedeutende Zukunftsfelder wie die künstliche Intelligenz angeht, stellt sich nicht mehr die Frage, wann das Land Europa überholen wird — sondern, ob dies nicht längst geschehen ist. Wie fundamental die Umwälzungen sind, zeigt ein Spruch, der in Berlin die Runde macht: Bald könnte Europa nur noch die Halbinsel am Ende des asiatischen Kontinents sein.
Dass die Europäer den Anschluss verlieren— selbst Schuld. Bereits 2000 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der EU die sogenannte Lissabon-Strategie. Der Kontinent sollte binnen zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt aufsteigen. Dazu ist es nicht gekommen. Ähnlich trist fällt die Bilanz in der Sicherheitspolitik aus. Vor 16 Jahren setzten sich alle Nato-Staaten das Ziel, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu erhöhen. Und? In Deutschland wird die Liste der defekten Panzer und Kamp5ets immer länger. Sicherheit, Digitalisierung, Finanzkrise — man kann die Dinge verschleppen, aber irgendwann kommt es zum Schwur. Auch deshalb sind nun Schicksalstage für Europa angebrochen: Gelingt es, den globalen Umbrüchen nicht nur mit Worten, sondern endlich auch mit Taten zu begegnen? Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt. Die Euro-Zone verfügt über die nach dem Dollar zweitwichtigste Währung. In keiner Region gibt es so viele Forscher.
Die Vorschläge zu einer Reform der Euro-Zone und EU liegen nun auf dem Tisch. Der französische Präsident Emmanuel Macron will das große Rad drehen, mit einem Euro-Finanzminister und einem milliardenschweren Euro-Zonen-Budget. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel dagegen glaubt eher an die Macht des Rädchens. Die Botschaft von Berlin gen Paris lautet: Man kann schon ein bisschen was machen, aber bloß nicht zu viel. Dabei liegt in der dramatischen Lage auch eine große Chance. „Europa bewegt sich immer nur in Krisen“, sagt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Interview (siehe Seite 23). Doch stimmt das auch dieses Mal? Europa müsste aktiv werden, vieles tun: seine Entscheidungsprozesse vereinfachen; sich als Raum verstehen, der mehr wert ist als die Summe seiner Teile; sich seinen Bürgern empfehlen mit relevanten Zukunftsprojekten, die gemeinsam angepackt werden. Es gibt fünf Prioritäten: eine engere Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen, ein besserer Schutz der Außengrenzen, die Vollendung des digitalen Binnenmarktes, eine Bildungsoffensive — und die Behebung der Konstruktionsfehler der Wirtschafts- und Währungsunion.
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Währungsunion
Thomas Wieser hat gerade viel Zeit. Vor seiner Pensionierung leitete der österreichisch-amerikanische Ökonom sechs Jahre lang die sogenannte Eurogroup Working Group (EWG), also jene Runde der Staatssekretäre, die einmal im Monat die Sitzungen der Finanzminister der Euro-Zone vorbereitet. Es war ein anspruchsvoller Job in einer noch anspruchsvolleren Zeit. Wieser hat die dramatischen Jahre der Euro-Krise miterlebt: nächtliche Verhandlungsrunden, Drohkulissen, eilig zusammengezimmerte Rettungspakete. Der Ruhestand bringt für Wieser nicht nur den Vorteil, sich seine Zeit frei einteilen zu können. Er kann nun auch offener reden. Von der Idee des französischen Präsidenten Macron etwa, einen Euro-Finanzminister zu installieren, hält er nichts: Da könne man auch „die Sessel auf der Titanic“ umstellen. Macron simuliere mit belanglosen Vorschlägen Reform und Erneuerung. Welche Therapie aber verdiente diesen Namen? Wieser glaubt, dass es sich bei der Vollendung der Bankenunion um die wichtigste Reformaufgabe handelt. Und dass Europa an dieser Stelle schon weit gekommen sei. Mit der gemeinsamen Bankenaufsicht und einem einheitlichen Abwicklungsfonds für die Finanzinstitute seien 90 Prozent des Weges zurückgelegt. Was seiner Meinung nach noch dringend benötigt wird: „Eine gemeinsame Einlagensicherung, die einvernehmlich in zwei bis drei Stufen aufgebaut wird, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind.“
Über die Bedingungen ist schon viel gesprochen worden: Die Banken müssen ihre faulen Kredite abbauen, die Mitgliedstaaten ihr Insolvenzrecht renovieren und Verwaltungen modernisieren. Sollte es beim EU-Gipfel Ende Juni keine Einigung auf einen Zeitplan für die Einlagensicherung geben, wäre das ein „schwerer Rückschlag auf dem Weg zu einer stabileren Währungsunion“, sagt Wieser. Das Problem aus seiner Sicht: Das im EU-Jargon Edis genannte Konstrukt wird bestenfalls in einer fernen Zukunft Realität. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) ist kein Fan. Und sein französischer Kollege Bruno Le Maire scheint sich mit Scholz‘ Einwänden abgefunden zu haben. Das wurde beim Treffen der G7-Finanzminister im kanadischen Whistler am vergangenen Wochenende klar. Immerhin sind Scholz und Le Maire gewillt, wenn nicht das ökonomisch Notwendige, so doch das politisch Mögliche auf den Weg zu bringen: einen gemeinsamen Vorschlag für eine Reform der Euro-Zone, den sie Merkel und Macron am 19. Juni präsentieren. „Jetzt oder nie“, sagt Le Maire.
Ein großer Wurf wird es nicht. Eher ein detailliertes Referat. Die Leitlinien setzen ohnehin Macron und neuerdings auch Merkel, die sich der Sache Europa lange wenig, dann eher formlos per Zeitungsinterview verschrieben hat: Ja, der Euro-Rettungsfonds ESM soll zu einer Art Europäischer Währungsfonds (EWF) ausgebaut werden — aber nur unter der Kontrolle der nationalen Parlamente. Ja, ein solcher EWF soll auch mit kurzfristigen Krediten Staaten in finanzieller Not helfen können — aber nur gegen strenge Auflagen. Und ja, damit sich die Wirtschaftskraft der Euro-Staaten angleicht, soll es ein zusätzliches Investitionsbudget geben — aber nur in geringer zweistelliger Milliardenhöhe.
Solidarität gegen Solidität — das könnte mal wieder die Formel sein, auf die sich die Euro-Zone einigt. Zumindest bis zur nächsten Krise. Glaubt man dem Euro-Insider Wieser, könnte die Formel immerhin ein Beitrag zur Überwindung eines wesentlichen Missverständnisses in Europa sein; „ Im Moment gibt es die Vorstellung im Norden, dass manche nur Solidarität einfordern, ohne sich an Soliditätsregeln zu halten, und im Süden die Vorstellung, dass nur Solidität gefordert wird ohne Solidarität“, sagte er kürzlich. Sein Fazit: „Beides ist falsch.“
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Digitaler Binnenmarkt
Wenn Sie das Facebook-SchiId sehen, sind Sie richtig, hatte die Pressesprecherin geschrieben — nicht die von Facebook wohlgemerkt. Und tatsächlich, das Schild klebt an der Tür eines durchschnittlich modernen Bürogebäudes im zweiten Arrondissement in Paris: Hier haben, ein paar Stockwerke unter Facebook, die Macher von BlaBIaCar Quartier bezogen, eines der wenigen Digitalunternehmen in Europa, dem Experten einen Wert von mehr als einer Milliarde Euro zuschreiben. „Guten Tag“, sagt Frédéric Mazzella, 42, der juvenile Chef und Mitgründer von BlaBlaCar: „Wie geht es Ihnen?“ Mazzella hat als Schüler Deutsch gelernt, und auch wenn er das Gegenteil behauptet und rasch ins Englische wechselt: Er spricht es gut. Wenn europäische Politiker signalisieren wollen, dass neue Ideen und digitale Geschäftsmodelle nicht nur im Silicon Valley oder im chinesischen Shenzhen gedeihen, sondern auch in Europa, deuten sie gern auf BlaBIaCar. Das Unternehmen koordiniert Autofahrer und Reisende zu Fahrgemeinschaften und verdient an den Vermittlungsgebühren. 60 Millionen Menschen sind auf der Plattform angemeldet, BlaBIaCar beschäftigt gut 350 Mitarbeiter und bietet seine Dienste in 22 Ländern an, vor allem in Europa. Aber, sagt Mazzella und seufzt: Europa mache es seinen Digitalunternehmen nicht leicht. In den USA oder in China ein Unternehmen gründen, das gleiche einem 100-Meter-Lauf. In Europa eine Firma aufbauen, das seien 110 Meter Hürden: „Es ist, als müssten wir jedes Mal, wenn wir in ein anderes europäisches Land gehen, eine neue Firma gründen.“
Dabei hat sich die Europäische Kommission genau das vor drei Jahren vorgenommen: dass Unternehmen wie BlaBIaCar grenzenlos wachsen können, schnell und unbürokratisch. Die Strategie sieht vor, dass bis 2020 Regulierungshindernisse beseitigt sind, 415 Milliarden Euro zusätzlich erwirtschaftet werden und Hunderttausende Arbeitsplätze entstanden sind. Aber erst sechs der Vorschläge, die die EU-Kommission von der Versteigerung von Funkfrequenzen bis hin zu digitalen Verwaltungen erarbeitet hat, sind auch schon beschlossen. Mit 18 weiteren Gesetzesvorlagen geht es mal mehr, mal weniger voran. Die Bundesregierung trägt dafür eine Mitverantwortung. In vielen Bereichen „wären wir längst fertig, wenn die Kommission nicht auf Drängen Berlins Spezialinteressen aufgenommen hätte, die eine Einigung erschweren“, kritisiert die Europaabgeordnete Julia Reda von der Piratenpartei. Gerade erst hat Deutschland gegen einen Kompromiss votiert, der im Rat zum Urheberrecht erzielt worden war.
Frédéric Mazzella will nicht nur meckern. Dass die EU die Roaming-Gebühren abgeschafft habe, „war notwendig und ist für Dienste wie uns gut“. Es brauche aber dringend weitere Vereinheitlichungen. Wie etwa eine Fahrgemeinschaft zu definieren ist und welche Vorschriften für BlaBlaCar daraus folgen, unterscheide sich von EU-Land zu EU-Land. Je nach Standort sei ein anderer Mehrwertsteuersatz fällig, ein anderes Arbeitsrecht einzuhalten. Das betreffe nicht nur Digitalfirmen, sagt Mazzella, stelle diese aber oft vor besondere Probleme, weil Geschäftsmodelle, Kunden- und Mitarbeiterstruktur von Anfang an international ausgelegt seien. BlaBlaCar wächst derzeit in seinen außereuropäischen Märkten, in Russland und Brasilien, besonders schnell. Auch deshalb ist Mazzella überzeugt: Ohne einen digitalen Binnenmarkt verliert Europa junge Unternehmen. „Wenn ein französisches Start-up glaubt, in den USA erfolgreich sein zu können, auf einem echten, einheitlichen Markt — warum sollte es hier bleiben?“
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Sicherheit
Die Wetten standen schlecht, dass sie sich würden einigen können, erinnert sich Thomas Schmitt. Damals, vor zwei Jahren, bezogen Teams am Standort von Airbus Defence im bayrischen Manching Quartier, um unter seiner Leitung eine Studie für eine europäische Drohne auszuarbeiten. Nicht nur, dass die Mitarbeiter aus vier Ländern kamen — sie arbeiteten auch für drei Unternehmen, für Airbus, Dassault, Leonardo. Nach all den negativen Erfahrungen bei europäischen Rüstungsprojekten: Warum sollte ausgerechnet das MALE-Programm gelingen?
Heute sind fast alle Zweifel ausgeräumt. Das Modell der MALE-Drohne („Medium Altitude, Long Endurance“) ist auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung in Berlin enthüllt worden. Und die Drohnen-Kooperation dient als Blaupause für den deutsch-französischen Plan, bis 2040 gemeinsam ein Kampfflugzeug zu entwickeln. Die Teams arbeiten nach Disziplinen zusammen, weshalb „Leute, die in ihren Unternehmen bisher einen Alleinanspruch auf ihrem Kompetenzfeld hatten, von Kollegen hinterfragt oder auch bestätigt werden“, sagt Airbus Programmleiter Schmitt. Eng ist auch der Austausch mit den Auftraggebern in den vier beteiligten Staaten. Nimmt man die Post-its als Anhaltspunkt, die ein Team an seine Bürowände geheftet hat, ist der Stolz auf das Projekt nicht länger deutsch, französisch, spanisch, italienisch. „Europeans do it better“, steht da etwa, oder auch: „Together we can“. Die Idee einer europäischen Verteidigungspolitik war lange theoretisch reizvoll und praktisch irrelevant. Es gab ja die Nato, die amerikanischen und französischen Kamp5ets und Eingreiftruppen. Und in Deutschland waren viele froh, bei Kampfeinsätzen nicht gefordert zu sein. Vor allem die Briten wachten bei europäischen Treffen stets darüber, dass keine sicherheitspolitischen Pläne ohne die USA geschmiedet wurden.
Doch dann stimmten die Briten für den Brexit und die Amerikaner für Donald Trump. Dessen „America first“-Strategie sorgte dafür, dass selbst die Kanzlerin findet, dass die Europäer nicht zu sehr auf die Schutzmacht von gestern setzen dürfen. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) entwickelte mit ihrer französischen Amtskollegin ein Konzept für eine engere militärische Kooperation in Europa (Pesco). „Wann, wenn nicht jetzt sollten wir so etwas vorantreiben“, schrieb sie im Herbst in einem WiWo-Gastbeitrag. Kurz vor Weihnachten stimmten 23 von 28 EU-Staaten zu. Gerade für kleinere Staaten, die sich keine aufwendigen, eigenen Waffensysteme leisten können, ist die Kooperation attraktiv.
Doch was die Deutschen für eine Stärke halten, ist aus Sicht der Franzosen eher eine Schwäche: Macron wünscht sich eine Eingreiftruppe, die schnell einsatzbar ist, ohne allzu aufwendige Abstimmung zwischen den Partnern. Hinzu kommt: In Deutschland müssen Einsätze außerhalb des Nato-Terrains vom Bundestag abgesegnet werden, und vor allem für die SPD ist dieser sogenannte Parlamentsvorbehalt „nicht verhandelbar“, so der verteidigungspolitische Sprecher Fritz Felgentreu. Vertreter fast aller Parteien finden richtig, dass die Europäer mehr Rüstungsprojekte gemeinsam planen wollen, etwa bei der Cyberabwehr. Auch über mehr europäische Forschungsförderung für Rüstungsprojekte denken Sicherheitsexperten nach: Die deutsch-französische Kooperation beim Airbus gilt als Vorbild, die Entschlossenheit der Staaten, industriepolitische Projekte voranzutreiben, inklusive.
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Grenzschutz
Walter Fuhro, steht in seinem Geschäft in Rheinau-Freistett und spricht über den Beruf, den er seit 54 Jahren ausübt: Fliesenleger. Im Moment, sagt der 68-Jährige, seien großformatige Fliesen in Mode. Er verlegt sie mit sehr schmaler Fuge: „Das können nicht alle.“ So gut ist Fuhros Handwerk, dass seine Dienste nicht nur in Deutschland gefragt sind. Sondern auch in Frankreich: Von seinem Geschäft sind es nur 4,6 Kilometer zur Grenze, die Straße runter, dann rechts auf die Landstraße 87, die direkt über den Rhein führt. 50 Kunden hatte Fuhro im Nachbarland. Hatte. Denn er nimmt keine Aufträge mehr an. „Es lohnt sich nicht mehr“, sagt er und: „Ich habe Frankreich abgehakt.“ Was ist passiert? Um Arbeitnehmer vor Lohndrückern zu schützen, sollen in der EU entsandte Arbeitnehmer nun das Gleiche verdienen wie ortsansässige Kollegen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort, das klingt erst einmal gut — doch vor allem Frankreich setzt die Reform der Entsenderichtlinie derart bürokratisch, stur und ungeschickt um, dass deutsche Unternehmer sich jetzt zurückziehen. Fuhro musste jeden einzelnen Arbeitseinsatz seiner Leute bei den Behörden in Frankreich anmelden: ein Formular pro Mitarbeiter, mit Passbild, Krankenkassen-Bescheinigung und Gehaltsabrechnung. Um die Formulare formgerecht einreichen zu können, musste er jedes Mal einen französischen Berater beschäftigen: „Ich habe pro Anmeldung 300 Euro gezahlt.“ Und wenn sich mal ein Arbeitseinsatz änderte, etwa, weil es auf der Baustelle zu Verzögerungen kam, musste er einen neuen Antrag stellen. „Das ist doch Schikane!“
Was denkt Walter Fuhro, wenn er Frankreichs Präsident Macron im Fernsehen sieht und von mehr Zusammenarbeit in Europa sprechen hört? Er glaube ihm kein Wort. „Es ist doch europafeindlich, was der macht.“ Vor der Entscheidung sind die Wirtschaftsverbände Sturm gelaufen gegen die neuen Hürden im Binnenmarkt: Ein Festival der Bürokratie rund um 30 Millionen Dienstreisen, die alleine Deutsche pro Jahr ins EU-Ausland unternehmen! Es half nichts. Es ist fast schon bizarr, dass die EU in ihrem Inneren neue Grenzen aufbaut — und bei der Verteidigung ihrer Außengrenzen versagt. Sie sind ein löchriges Sieb. Die zu ihrem Schutz gegründete EU-Agentur Frontex patrouilliert mit ihren Booten zwar auf dem Mittelmeer. Aber wird ein Flüchtlingsboot gesichtet, übernehmen Beamte der lokalen Küstenwachen das Kommando, die mit an Bord sind. Trotzdem will EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger das Budget von Frontex verfünffachen: Die verstärkte Truppe soll „innerhalb der nächsten drei Jahre“ einsatzbereit sein — und die aufgebauten Binnengrenzen wieder einreißen helfen. Doch Oettingers Vorstoß löst den Grundkonflikt nicht: Frontex bleibt auf die Hilfe der lokalen Beamten angewiesen — ist eine Behörde ohne Kompetenz.
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Bildung
Spanische Sätze überlagern französische Wortfetzen, wenn Simon Gmeiner auf gut Deutsch über seine europäische Identität spricht. Der 28-Jährige sitzt in einer Mensa des Europa-Kollegs in Brügge, der europäischsten Uni der Welt. Jedes Jahr studieren an der „Kaderschmiede der EU“ knapp 350 junge Menschen aus Dutzenden Ländern, praktizieren hier Multikulti auf hohem Niveau.
Als Gmeiner nach Brügge kam, hatte er die Welt längst bereist: Freiwilligendienst in Säo Paulo, Auslandssemester in Buenos Aires, Praxiserfahrung in Washington. Trotzdem haben ihn die Monate in Brügge geprägt. Er ziehe aus den Eigenheiten der europäischen Kulturen Energie, sagt Gmeiner. Er habe sich schon vorher als Europäer gefühlt. „Aber hier bin ich einer geworden.“ Jörg Monar, der Rektor des Brügger Kollegs, hört das gern. Er ist von Haus aus Historiker, hat in England, Frankreich, Italien und Deutschland gelebt. Er schätzt die Atmosphäre, weiß aber auch, dass seine Eliteschmiede vor allem ohnehin Überzeugte anzieht: „Die europäische Idee müsste schon im Kindergarten vermittelt werden.“ Das belegt eine exklusive Auswertung der Studie „Junges Europa 2018″ der TUI Stiftung. Abgesehen von Polen „gibt es den Trend, dass die Affinität zur EU mit höherer Bildung ansteigt“, sagt Geschäftsführerin Elke Hlawatschek. Der Grund: Wer eine Universität besucht, kommt dank des Erasmus-Austauschs nicht um Europa herum. Wer sich stattdessen für eine Lehre entscheidet, besucht Sevilla, Warschau oder Brügge nur als Tourist.
In Plön, 100 Kilometer nördlich von Hamburg, blättert Ulrike Osterloh-Riettiens durch einen Aktenordner, dicht beschriebene Seiten, Evaluationsbögen, Antragsdeutsch. Seit neun Jahren kümmert sie sich am regionalen Berufsbildungszentrum um den Europaaustausch. Darum, dass auch Auszubildende ihre Chance auf Europa bekommen. Osterloh-Riettiens seufzt: Die Anträge seien noch das kleinste Problem. Etwa im Vergleich zur Unterbringung der Azubis. Für Studierende gibt es Wohnheime — aber wo sollen minderjährige Berufsschüler wohnen? Oder die Chefs der Ausbildungsbetriebe. In der Theorie Austausch-Anhänger, in der Praxis Realisten, die aufvertraute Arbeitskräfte bauen wollen. Und dann sind da noch die unterschiedlichen Ausbildungssysteme in der EU: „Manche Berufe gibt es in anderen Ländern gar nicht“, sagt Osterloh-Riettiens. Und so schafften es von knapp 2000 Berufsschülern im vergangenen Schuljahr gerade mal 44 ins Ausland. Von der Wirtschaft fordert OsterlohRiettiens mehr Unterstützung. Von der EU wünscht sie sich mehr Geld für Stipendien und mehr Einheitlichkeit. Oft scheitert der Austausch am Geld. Noch häufiger hapert es am Bildungsföderalismus der EU. Standardisierte Module wie an Universitäten könnten helfen. „Wir brauchen einen Bologna-Prozess für die Berufsschulen.“ Doch der ist nicht in Sicht. In einem Programmvorschlag für Erasmus+, das alle Programme der EU zusammenbindet, verspricht die Kommission mehr Geld, europäische Universitäten, Exzellenzzentren für die Ausbildung. Von einem Bologna-Prozess für Berufsschulen dagegen kaum ein Wort. Osterloh-Riettiens will trotzdem weitermachen. Jedes Mal, wenn ein Berufsschüler nach ein paar Wochen zurückkommt, sieht sie selbstbewusstere, neugierigere Menschen. Menschen, die es braucht für ein einig
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