Für Siemens-Vorstand Michael Sen ist es die größte Bewährungsprobe seiner Laufbahn. Und zugleich auch die Chance zum Sprung nach ganz oben – in den Chefsessel des Konzerns. Der sympathische und kluge Manager mit dem Lausbubenlächeln — 1968 als Sohn indischer Eltern in Korschenbroich am Niederrhein geboren – soll vor Ostern die Siemens-Sparte Medizintechnik (Kunstname: Healthineers) an die Börse bringen. Die Operation könnte bis zu 10 Mrd. Euro in die Münchner Konzernkasse pumpen. Läuft alles glatt, kann der ehemalige Siemens-Lehrling -und studierte Betriebswirt den größten Börsengang seit dem Verkauf der T-Aktie vor über 20 Jahren in seiner Personalakte abheften.
Die schönen Milliarden will und müssen allerdings für einen profanen Zweck ausgeben: den Abbau von Schulden. Die Medizinsparte schleppt einen ganzen Batzen davon mit sich herum – insgesamt 8,2 Mrd. Euro. Die Medizintechnik wäre heute nicht der profitabelste Bereich des ganzen Konzerns mit einer superben operativen Gewinnmarge von 18 Prozent, wenn nicht die früheren Siemens-Chefs Heinrich von Pierer und Klaus Kleinfeld viél Geld für Übernahmen ausgegeben hätten. Zwischen 2000 und 2007 kauften die beiden Manager fünf große Medizintechnikunternehmen in den USA und Deutschland – unter anderem den Diagnostikbereich der Bayer AG – für insgesamt 15 Mrd. Euro. Mit dem Börsengang erntet der jetzige Siemens-Chef Joe Kaeser also nur, was seine Vorgänger gesät haben.
Das Kunstprodukt Healthineers ist nur ein Beispiel von vielen für den permanenten Umbau von Siemens. Seit Jahrzehnten kauft und verkauft der Konzern in aberwitzigem Tempo Firmen. Sein Verhalten ähnelt eher einem angelsächsischen Private-Equity-Fonds als einem normalen Industrieunternehmen. Insgesamt gab Siemens zwischen 1990 und heute mehr als 55 Mrd. Euro für Übernahmen aus – und nahm gleichzeitig durch Ausgliederungen, Verkäufe und Börsengänge von Töchtern rund 41 Mrd. Euro ein.
Diese Zahlen ergeben sich aus einer akribischen Liste des ehemaligen Siemens-Managers Manfred Hoefle, die Capital ergänzt und mit den neuesten Transaktionen aktualisiert hat. Der heutige Managementtheoretiker sieht die Entwicklung kritisch: Durch die starke Ausrichtung auf eine immer kurzfristigere Portfolio-Optimierung stehe bei Siemens nicht mehr Innovation im Vordergrund, sondern der Cashflow. Die Bilanz der vielen Käufe und Verkäufe sei höchstens „durchwachsen“, eigentlich sogar „unbefriedigend“.
Auch das kann man am Beispiel der Medizintechnik nachvollziehen: Siemens kaufte in den letzten Jahrzehnten nicht nur für 15 Mrd. Euro kräftig zu, sondern stieß zugleich für insgesamt 2 Mrd. Euro bisherige Bereiche ab – von Herzschrittmachern bis zur Technik für Zahnärzte. Einiges davon könnte das neue Unternehmen Healthineers heute durchaus gebrauchen. So stammte der erste moderne, voll in den Körper implantierte Herzschrittmacher 1958 aus dem von Siemens übernommenen Unternehmen Elema. Doch schon 1994 trennte sich der Konzern für 300 Mio. Euro wieder von diesem Bereich. Heute machen andere wie der US-Konzern Medtronic Milliarden mit Herzschrittmachern. Siemens fehlte die Geduld, die Technologie nach einem großen Skandal in Deutschland und einigen Patientenklagen in den USA weiterzuent- wickeln.
Was damals noch ein Einzelfall war, bestimmt heute den Alltag des Konzerns: Die ständige Beschäftigung mit neuen Akquisitionen und Desinvestitionen lässt kaum noch Zeit für eine nachhaltige Unternehmensführung. Die entscheidende Frage sei, meinen Siemens-Kritiker wie Hoefle: „Wo liegt am Ende das, was die Experten Management-Attention nennen?“
Heute erwirtschaften 380 000 Mitarbeiter bei Siemens weltweit einen Umsatz von rund 83 Mrd. Euro. Im Laufe der letzten drei Jahrzehnte aber verließen fast 500 000 Beschäftigte das Unternehmen – und 200 000 kamen durch Übernahmen neu dazu. Rechnet man das Volu- men aller Transaktionen nach den jeweiligen Umsätzen zum Zeitpunkt des Kaufs oder Verkaufs zusammen, kommt man auf gewaltige 183 Mrd. Euro. Kein anderer deutscher Konzern kommt auf ähnliche Zahlen.
Und das Tempo des Umbaus wächst: Allein in den letzten drei Jahren verkündete Siemens-Chef Kaeser die Übernahme von zwölf Unternehmen mit einem Gesamtumsatz von 6,3 Mrd. Euro und 28 660 Mitarbeitern. Im gleichen Zeitraum verließen das Unternehmen fast 120 000 Mitarbeiter durch Ausgliederungen in Joint Ventures oder Verkäufe — mit einem Gesamtumsatz von fast 30 Mrd. Euro. Klappt der Börsengang der Medizintechnik, muss man 48 000 Mitarbeiter und 14 Mrd. Euro Umsatz addieren.
Der letzte Umbauschub soll Siemens abermals von Grund auf verändern: Joe Kaeser will den Konzern durch eine Kette von Ausgliederungen – Windenergie, Bahngeschäfte, Antriebe – aus der alten Welt der Mechanik herauslösen und ganz als elektrischen und digitalen Konzern aufstellen. Alle Randaktivitäten ohne größere Synergien mit dem Kerngeschäft müssen gehen. Zugleich hat Kaeser viel Geld in die Hand genommen, um spezialisierte Softwarehersteller zu übernehmen und den gesamten Konzern zu digitalisieren. Nebenbei stemmte Siemens noch den größten Zukauf der Konzerngeschichte: den Erwerb des Kompressoren- und Turbinenherstellers Dresser-Rand in den USA, der 7,5 Mrd. Euro verschlang und für viel Kritik in den eigenen Reihen sorgte.
Siemens wird durch die letzten Firmenkäufe noch stärker zu einem deutsch-amerikanischen Konzern. Nicht ohne Grund durfte Kaeser beim Weltwirtschaftsforum in Davos neben US-Präsident Donald Trump Platz nehmen: Siemens hat heute in den USA 70 000 Angestellte und Arbeiter – so viele wie kein anderes deutsches Unternehmen. Seit 1992 ging der Konzern fast ausschließlich in den USA auf die Suche nach Übernahmen. Es war also nicht organisches Wachstum, das Siemens in den USA an die Spitze brachte, sondern eine gigantische Akquisitionstour. In der gleichen Zeit kaufte Siemens in Asien keine einzige größere Firma. Die Folge: Der Konzern erzielt immer noch über 80 Prozent seines Umsatzes in Europa und Nordamerika. Das Geschäft in China sorgt nicht mal für zehn Prozent.
Die relativ schwache Position des Konzerns auf dem wichtigsten Wachstumsmarkt der Welt hängt mit einer zweiten großen Veränderung zusammen, die Siemens in den letzten Jahrzehnten konsequent durchgezogen hat: dem Abschied vom Endverbraucher. Ob Handys (Verkauf 2005), Glühlampen (Ausgliederung 2013), Hausgeräte (Verkauf 2015) oder Hörgeräte (Verkauf 2015) – alles musste weg. Siemens verkauft seine Produkte heute ausschließlich an andere Konzerne und Staaten in aller Welt. In diesem Business-to-Business-Geschäft kann man sich Massenwerbung und Milliarden für Marketing sparen. Siemens war in der Vergangenheit in Sachen Kommunikation nie gut und froh, sich aus der Welt der Kreativen zu ver- abschieden. Allerdings fehlen dem Konzern nun Produkte für Entwicklungs- und Schwellenländer. Vom großen Konsumboom in China profitiert Siemens deshalb nur indirekt.
Nicht immer stimmte in der Vergangenheit auch die offizielle Siemens-Linie, man verabschiede sich von „Lowtech“ und investiere konsequent in „Hightech“. So trennte sich der Konzern seit Ende der 90er-Jahre auch von allen Halbleitern und elektronischen Bauteilen. Höhepunkt war dabei der Börsengang von Infineon im Jahr 2000, als 26 000 Mitarbeiter und 7 Mrd. Euro Umsatz den Konzern verließen. Siemens traute sich in diesen Jahren nicht zu, gegen die starke Konkurrenz aus den USA und Asien zu bestehen. Heute könnte der Konzern einiges von dem Know-how gebrauchen, das damals abfloss.
Wer so viele Unternehmen so schnell aus- und eingliedert wie Siemens, kann nicht bei allen Transaktionen Gewinne machen. Bestes Beispiel: die Antriebstechnik. Erst 2005 legte sich Siemens den deutschen Spezialisten Flender für 1,2 Mrd. Euro zu. Danach gliederte der Konzern den Großbetrieb (damals 6 700 Mitarbeiter und gut eine Milliarde Umsatz) mit großem Aufwand ein. Im vergangenen Jahr hieß das Kommando „Zurück“: Vorstandschef Kaeser verselbstständigte Flender wieder und will sich möglichst noch in diesem Jahr von dem Unternehmen trennen. Dabei kann Siemens nur mit einem Erlös von gut 1 Mrd. Euro rechnen, wie man von Investmentbankern hört. Addiert man die Inflation seit 2005 und die zwischenzeitlichen Investitionen, so bleibt wahrscheinlich unter dem Strich ein empfindlicher Verlust. Ähnlich erging es Siemens mit Nixdorf: 1991 ging der Hersteller von Kassenautomaten an den Münchner Konzern, 1999 trennte man sich wieder – in einer Art Not verkauf an Private-Equity-lnvestoren.
Auch beim Großeinkauf Dresser-Rand verhob sich Siemens 2015. Kaeser ließ sich in einen Bieterwettbewerb mit seinem Vorgänger Peter Löscher treiben und zahlte viel zu viel Geld für die US-Firma. Mit einem Umsatz-Multiple von 2,8 bewerteten die Deutschen das amerikanische Unternehmen wie einen Hoffnungswert in ausgesprochenen Wachstumsbranchen. Danach brach der Erdölpreis ein und bescherte Dresser-Rand hohe Verluste. Die Amerikaner hängen mit ihrem Kompressorengeschäft weitgehend an der Nachfrage der Öl- und Gasbranche, die jedoch seit Jahren nur noch sehr wenig investiert. Wie es um Dresser-Rand genau steht, weiß nur die Siemens-Spitze: Genaue Zahlen muss der Konzern für seine voll eingegliederte Neuerwerbung nicht nennen. Auch Einzelabschreibungen auf den hohen Firmenwert von Dresser-Rand muss Kaeser nicht veröffentlichen. Immerhin gibt der Vorstandschef inzwischen zu, „im Nachhinein betrachtet“ sei der Zeitpunkt des Kaufs „nicht ideal“ gewesen.
Wo sich Neuerwerbungen in vorhandene Sparten integrieren ließen, war ihr Wertbeitrag über die Jahre am größten. Die Versuche, allein durch Firmenkäufe ein neues Geschäftsfeld aufzubauen, scheiterten jedoch oft. So kaufte Siemens zahlreiche kleine Unternehmen für die Wasseraufbereitung zusammen. 2014 stellte Kaeser die so entstandene Einheit Water Technologies wieder zum Verkauf. Ähnlich durchwachsen geht es der Sparte Windenergie, die ebenfalls eingekauft wurde, Seit 2017 gehören die Fabriken, die schlüsselfertige Windkraftanlagen liefern, zu einem Gemeinschaftsunternehmen mit der spanischen Gamesa.
Die Kapitalmärkte schätzen jedoch die Strategie von Siemens. Seit 2013 ist der Kurs der Aktie um die Hälfte gestiegen, seit Beginn der großen Einkaufstour 2015 sogar deutlich stärker als der Dax. Die Investoren handeln dabei vor allem mit Hoff
nung. Sie glauben, der weitere Um bau des Konzerns und die Integration der neuen Firmen würden gelingen. Dann könnten die Gewinne weiter sprudeln wie zuletzt. Was viele Analysten bei dieser Rechnung nicht beachten: Siemens verzerrt seit Jahren seine Gewinnrechnung durch stille Reserven, die nach Börsengängen und Verkäufen in das Finanzergebnis der Bilanz einfließen. Umgekehrt schreibt die Konzernspitze ihre integrierten Neuerwerbungen wie Dresser-Rand nach Gusto ab — und nach Meinung von Kritikern deutlich geringer, als es bei selbstständigen Tochterfirmen notwendig wäre.
So steigerte Siemens auch im vergangenen Jahr seinen Gewinn nur durch den Verkauf des Lichtspezialisten Osram und die US-Steuerreform. Der ehemalige Finanzvorstand Kaeser, der schon immer begnadet war im Umgang mit Analysten, bedient die hohen Erwartungen der Investoren optimal. Er ist dabei, die Siemens AG in eine Art Holding selbstständiger Unternehmen umzubauen. Aus einem Konglomerat solle so ein „schneller Flottenverband“ (Kaeser) werden. Die Konzernvorstände entfernen sich damit allerdings noch weiter vom eigentlichen Geschäft. Sie müssen einen Großteil ihrer Zeit opfern, um das Portfolio in ihrem Bereich ständig weiter umzuschichten. Nach einer kurzen Verschnaufpause dürfte daher die Welle an Ver- und Zukäufen bei Siemens weitergehen.
Im „alten“ Siemens-Könzern waren es begnadete Techniker wie Siegfried Russwurm, die im Vorstand die Strippen zogen und immer Geld für Innovationen aus eigener Kraft loseisten. Diese Ära ist vorbei. Kaeser stützt sich vor allem auf Strategen und Finanzfachleute. Auch Michael Sen, der Mann für den Börsengang der Gesundheitssparte, erfüllt diese Anforderungen. Der Betriebswirt verbrachte seine 20-jährige Karriere bei Siemens in den verschiedensten Strategie- und Finanzabteilungen. Einem Kunden eine Turbine verkaufen musste Sen noch nie. Aber er begleitete viele Transaktionen. Wahrscheinlich hältihn Kaeser deshalb für einen möglichen Nachfolger.