„Die Polizei, dein Freund und Helfer“ – ein Spruch, den wir seit Jahrzehnten kennen und der nach der Jahrhundertwende in abgewandelter Form bereits Anwendung fand. Gemeint war das Vertrauen zur Polizei, die jedem hilft, der in Not geraten ist. Doch heutzutage zweifelt manch einer an der Hilfsbereitschaft der Polizei, wenn man feststellen muss, dass wie in Lüdge, beim Campingplatz Missbrauch, Polizeiarbeit schlampig und unzureichend ausgeführt wird. Zum Nachteil der Opfer – und mit Vertuschungen und Lügen gearbeitet wird. Behördenversagen in schlimmster Form.
Mehr als 100 Tage ist es nun her, dass der Aluminiumkoffer mit den 106 CDs zum letzten Mal gesehen wurde. Eine Sachbearbeiterin kehrte am 20. Dezember 2018 nach einer Krankheit an ihren Schreibtisch in Raum 138 der Kreispolizeibehörde Lippe in Detmold zurück. Dort soll das Beweisstück in Form eines Reise-Beautycase auf dem Boden gestanden haben, anderthalb Meter von ihrem Platz entfernt. Daneben: eine Mappe mit weiteren 49 CDs, die seither ebenfalls verschwunden sind. Wer die Asservate dort ablegte und vor allem, wo sie geblieben sind, das konnte auch die wochenlange Fahndung einer vierköpfigen internen Taskforce nicht aufklären. Bislang ist nicht einmal sicher, wie der dringend gesuchte Alukoffer des Täters genau aussieht. Denn dummerweise sind nicht nur die Asservate weg, es existieren nicht einmal aussagekräftige Fotos von ihnen.
Der Fall des Dauercampers aus Nordrhein-Westfalen, der mindestens 34 Kinder missbraucht und teilweise dabei gefilmt haben soll, erschüttert in mehrfacher Hinsicht. Beinahe so verstörend wie die Taten, die der Hauptverdächtige Andreas V. — zeitweise zusammen mit Komplizen — auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde begangen haben soll, wirkt das Versagen der Behörden. Vom Jugendamt bekam der alleinstehende arbeitslose Camper eine Pflegetochter zugesprochen, sie ist unter den Opfern. Dabei gab es wiederholt Hinweise auf Missbrauch, doch Polizei und Ämter ließen sie versanden. Gegen drei Beamte wird deshalb wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt. Und auch die Ermittlungen der Polizei verliefen zeitweise desaströs. So wurde der Tatort nur schlampig durchsucht, wichtige Asservate verschwanden, minderjährige Zeugen müssen sich womöglich erneut einer quälenden Vernehmung unterziehen, damit eine Anklage vor Gericht standhält. Protokolle aus dem Innenausschuss des NRW-Landtags zeigen das Ausmaß des polizeilichen Versagens. Ans Licht kommt dabei auch, dass ein weiterer Campingwagen und damit möglicher Tatort zunächst offenbar weitgehend ignoriert wurde.
Auslöser der Ermittlungen gegen Andreas V. war die Anzeige einer Mutter eines neunjährigen Mädchens aus Bad Pyrmont. Sie wandte sich am 20. Oktober 2018 an die Polizei. Die Anhörung des Mädchens erfolgte zehn Tage später und erhärtete den Verdacht eines schweren sexuellen Missbrauchs. Dann geschah erst einmal: nichts. Zwei Wochen vergingen, bis das Kommissariat im niedersächsischen Bad Pyrmont den Fall über die Landesgrenze an die westfälischen Kollegen abgab, in deren Sprengel der Campingplatz liegt. Hier war von nun an das Fachkommissariat für Sexualdelikte der Polizeibehörde Lippe in Detmold zuständig. Zwar wurde Andreas V. umgehend die Pflegetochter entzogen, doch die Ermittlungen verzögerten sich weiter. Erst am 4. Dezember 2018 — mittlerweile lag die Anzeige der Mutter sechs Wochen zurück, und es gab Hinweise auf weitere Opfer — beantragte die Kripo Lippe endlich die Durchsuchung der Behausung auf dem Campingplatz, zwei Tage später kam der 56-Jährige in Haft. In seiner Parzelle auf dem Campingplatz Eichwald, einem mit Holzpaneelen verkleideten Wohnwagen mit Vorzelt, fanden die Beamten Kameras, Computer und Speichermedien — darunter die Mappe mit 49 CDs. In einem Apartment im benachbarten Ort, das Andreas V. zwar angemietet, aber nicht bezogen hatte, stand der Alukoffer. Die Sachen wurden in die Asservatenkammer gebracht, so weit lässt sich ihr Weg nachvollziehen.
„In höchstem Maße mangelhaft“
Zu jener Zeit absolvierte ein Kommissaranwärter seine Ausbildungsstation in Detmold. Er machte sich am 13. Dezember in Raum 138 daran, die CDs aus der Mappe und dem Koffer zu sichten. Wer ihn damit beauftragte, ist ungeklärt. Rund fünf Stunden dauerte die Sichtung, von einer systematischen Auswertung kann aufgrund der Kürze der Zeit und der Ungeübtheit des jungen Mannes keine Rede sein. Von den 155 CDs speicherte er nur drei in einem elektronischen Ordner. „Von 152 CDs verfügen wir über keinen Datenrückhalt“, stellt Sonderermittler Ingo Wünsch laut Protokoll fest. Ein sofort erstellter Auswertungsbericht existiert ebenfalls nicht. Erst nachdem die Daten verschwunden waren, verfasste der Polizeischüler „in einem Konglomerat von persönlichen Klimmzügen“ ein Protokoll. Es taugt nicht viel.
Sonderermittler Wünsch ist ein erfahrener Kripobeamter. Er wurde Mitte Februar vom Innenministerium in Düsseldorf entsandt, um das Debakel von Detmold zu durchleuchten und die verschwundenen CDs wieder aufzutreiben. Den Polizeischü1er nimmt Wünsch ausdrücklich in Schutz; er habe es nicht besser wissen können. Den Überbau hingegen kritisiert er als „in höchstem Maße mangelhaft“. Dass sich niemand in der Polizeibehörde an den Verbleib der Asservate erinnern mag, gebe ein „sehr trauriges Bild“ ab. Die Kreispolizeibehörde in der Bielefelder Straße in Detmold wird per Video überwacht, doch die Aufnahmen werden alle 48 Stunden überschrieben. Die Tür zu Raum 138 stand offenbar regelmäßig offen, zudem waren seinerzeit Handwerker in der Polizeistelle unterwegs – unbeaufsichtigt.
Wünsch hatte also kaum Anhaltspunkte. In Büros, Klos und Technikräumen ließ er, als Erstes nach den CDs suchen. Das‘ Außengelände wurde später und diskret durchkämmt, damit die Presse nicht Wind von der beschämenden Aktion bekam. Wünsch: „Ich möchte nicht mit Kolleginnen und Kollegen durch die Büsche laufen und das Ganze als mediale Bilder haben.“ Doch auch in den Sträuchern fand sich nichts. An einen Zufall glaubt kaum jemand mehr. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Beweise bei der Polizei absichtlich entfernt wurden, und ermittelt gegen unbekannt wegen Diebstahls. Hinweise ignoriert, Asservate verschwunden — man muss nicht zu Verschwörungen neigen, um bei diesem Fall ins Grübeln zu kommen. Zumal es weitere Auffälligkeiten gibt: Irgendwer versuchte, in den Keller von Mittäter Mario S. im Kreis Höxter einzubrechen. Und auch an einem Wohnwagen des Hauptverdächtigen V. machte sich jemand zu schaffen. Andreas V. besaß drei Campingwagen. In dem zur Bretterbude ausgebauten Mobil wohnte er. Gegenüber steht ein ausrangiertes Modell, das der Pflegetochter als Spielzimmer diente. Ein dritter Wagen war etwas abseits abgestellt. Das Gefährt war bis 2017 auf V. angemeldet, er nutzte es für Ausflüge — auch zusammen mit Kindern. Ein möglicher Tatort also.
Laut Aussage von Innenminister Herbert Reul nahm die Polizei Lippe den dritten Wagen erstmals am 18. Dezember2018 „in Augenschein“ — also knapp zwei Wochen nach der Festnahme des Hauptverdächtigen. Die Beamten fotografierten das Gefährt und klebten ein Siegel auf den Türschlitz. Eine Beweissicherung unterblieb offenbar. Den Ort sperrten sie nicht ab.
Ende Februar konfrontierte man Landesregierung und Staatsanwaltschaft mit der Beobachtung, dass an dem Wagen das Siegel gebrochen war. Offensichtlich ein Weckruf: Wie sich den Protokollen entnehmen lässt, besaß die Kripo Bielefeld, die den Fall von den überforderten Kollegen aus Lippe übernommen hatte, bis zu der Anfrage nicht einmal Kenntnis von dem dritten Wagen. Er war im Wust der unsortierten Akten schlicht verschütt gegangen. Erst am 5. März wurde der Camper durchsucht. Bis „auf ein Kleidungsstück“, erklärte Innenminister Reul am 14. März im Innenausschuss, fand sich dort nichts mehr. Bleibt die Frage, wer ein Interesse daran hat, die Ermittlungen zu erschweren und Beweise verschwinden zu lassen? Fortsetzung folgt bestimmt…