Drei Millionen Flugzeuge tummeln sich im deutschen Luftraum, und bald wird ein junger Mann im braunen Karohemd über sie wachen. Mithilfe eines Kontrollsystems, alles Hightech, und er wird es steuern: der 24-jährige Henrik Köhler. Demnächst erhält er sein Bachelorzeugnis als Flugsicherungsingenieur. Dann gehört er zu den paar Dutzend neu ausgebildeten Frauen und Männern unter 30, die die Überwacher der Überwacher des deutschen Luftverkehrs sind. „Lotsen überwachen den Flugverkehr. Und wir überwachen die Lotsenarbeitsplätze“, sagt Köhler mit einem Grinsen unter einer Gelfrisur, die man eher im Skaterpark als im Sicherheitsbereich vermutet.
Die Deutsche Flugsicherung (DFS) bildet erst seit drei Jahren eigene Flugsicherungsingenieure aus — als erstes und einziges Unterneh men. Denn nirgendwo sonst werden diese Spezialkenntnisse über Radar-, Navigations- und Kommunikationstechnik gebraucht. Während die rund 2 000 Fluglotsen im Tower eine interne Berufsausbildung durchlaufen, wird den Flugsicherungsingenieuren ihr Wissen über Mathematik, Physik, IT, Elektro- und Hochfrequenztechnik in einem dualen Studium vermittelt. In beiden Ausbildungssystemen ist die Deutsche Flugsicherung hervorragend.
Junge Menschen wie Henrik Köhler sind Teil einer großen Entdeckungstour: Erstmals hat Capital — gemeinsam mit der Talentplattform Ausbildung.de – eine breit angelegte Untersuchung durchgeführt, wie deutsche Unternehmen ausbilden.
Herausgekommen ist eine große Studie über die „Besten Ausbilder Deutschlands“, die ein Gesamtbild und eine valide und wertvolle Datenbasis liefert — über Ausbildungsgänge und das duale Studium. Ein immens wichtiges Thema, schließlich wird unser Land weltweit für seine betriebliche Qualifizierung bewundert und beneidet. Und der Nachschub an jungen Fachkräften ist zentral für das Wachstum unserer Wirtschaft.
Doch wie gut sind deutsche Unternehmen wirklich? Wen sollten sich junge Menschen anschauen – und von wem können sich andere Firmen etwas abschauen? Was machen die anders und wie?
Mit einem detaillierten Fragenkatalog, der an rund 12 000 Unternehmen ging, wurde den Erfolgs rezepten nachgespürt. Mehr als 500 Personalverantwortliche haben Auskunft erteilt (mehr zur Methodik auf Seite 38). Capital-Reporter sind zudem quer durchs Land gereist und haben viele Unternehmen und Ausbilder besucht — vom ADAC über Dax-Konzerne wie Merck und Continental bis hin zu Familienunternehmen wie Alfred Ritter und Freudenberg (die Fallbeispiele lesen Sie ab Seite 40). „Die rege Beteiligung der Unternehmen und die große Bandbreite hat uns gefreut, vom Familienbetrieb bis zum Dax-Konzern ist alles vertreten“, sagt Studienleiterin Ana Fernandez-Mühl. Knapp die Hälfte der Firmen schneidet mit guten oder sehr guten Ergebnissen ab, die in der Übersicht nach Regionen und Firmengröße geordnet sind (Tabelle ab Seite 48). Hier werden Erfolgskriterien sichtbar und die Ausbildungsbetriebe besser vergleichbar. „Damit wollen wir aufzeigen, wo Unternehmen im Wettbewerb um die begehrten Absolventen stehen“, sagt ein Insider.
Eine Navigation durch das deutsche Bildungssystem hat Henrik Köhler nach dem Abitur vermisst. Die meisten seiner Mitschüler sind an die Uni gegangen. Also hat sich Köhler auch erst einmal für ein Maschinenbau studium eingeschrieben. „Da hat mir aber total die Perspektive gefehlt“, sagt der junge Mann aus der Lüneburger Heide. Er brach nach vier Semestern ab, stieß bei der Recherche über den Piloten- und Lotsenberuf auf die Ausschreibung für das duale Studium zum Flugingenieur. „Mir war klar, wenn ich da eine Zusage bekomme, dann habe ich einen sicheren Arbeitsplatz“, sagt Köhler. Bestenfalls bis zur Rente.
Solche Botschaften sind bei den Unternehmen angekommen: Viele umwerben die junge Generation offensiv mit Übernahmegarantien und guter Bezahlung, schon während der Ausbildung. Die DFS übernimmt derzeit 100 Prozent ihrer dual ausgebildeten Flugsicherungsingenieure, bei allen anderen befragten Unternehmen lag die Übernahmequote im Schnitt bei 84 Prozent.
Die meisten starten mit einem Ausbildungsgehalt von durchschnittlich 830 Euro und landen bei einem Einstiegsgehalt von 2 300 Euro. Bei der Flugsicherung hat Köhler im ersten Lehrjahr 880 Euro monatlich bekommen, dazu noch einen Wohngeldzuschuss. Ab 2018 steht ihm bei seiner längst zugesagten Festanstellung in der Radartechnik ein Gehalt von 4 461 Euro im Monat zu. Das ist selbst für Absolventen eines dualen Studiums überdurchschnittlich hoch.
„Wir brauchen die Besten der Besten“, sagt DFS-Personalchef Michael Hann. „Es genügt uns nicht, irgendwelche Menschen zu finden, die Elektrotechnik oder Informatik studiert haben.“ Die Erfahrung mit Ingenieuren, die im eigenen Ausbildungszentrum noch monatelang qualifiziert werden mussten, hat die DFS lange gemacht, bevor sie sich vor drei Jahren mit dem dualen Studiengang selbst auf Talentsuche begab. Der Vorteil: Diejungen Leute können viel enger begleitet, ihre Fähigkeiten beobachtet und gefördert werden.
Das liegt im Trend: In der Capital-Studie gaben 63 Prozent der Unternehmen an, dass sie ein duales Studium anbieten, den Mix aus Betriebspraxis und Hochschullehre. Damit kommen sie den Bewerbern entgegen, von denen immer mehr nach dem Schulabschluss erst einmal dem Akademisierungsdrang der Eltern oder Lehrer nachgeben – auch wenn sie es gar nicht wollen.
Damit aber fehlt den Unternehmen der dringend benötigte Nachwuchs an Fachkräften. Dieses Dilemma belegt das Bundesinstitut für Berufsbildung im aktuellen „Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2017″ mit Zahlen: Es gibt nicht nur insgesamt weniger junge Menschen in Deutschland, sondern auch weniger junge Menschen, die sich für einen der rund 330 klassischen Ausbildungsberufe entscheiden. 1,3 Millionen Azubis haben die Statistiker zuletzt gezählt, es werden immer weniger. Fatal, wenn dann Unternehmen und Auszubildende nicht immer zusammenkommen. 2016 blieben acht Prozent der betrieblichen Ausbildungsplatzangebote unbesetzt. Das sind 43 500 Plätze — so viele wie seit 1995 nicht mehr.
Der Kampfum die Nachwuchskräfte läuft auf Hochtouren. Dabei geht es längst nicht nur um die Jahrgangsbesten. Nachschub wird gebraucht, Noten sind nebensächlich.
Viel wichtiger ist den meisten Ausbildern eine gewisse Neigung für eine Fachrichtung, im besten Fall echtes Interesse für eine Branche oder das Unternehmen. Nachschu len müssen die Betriebe dann ohnehin — und zwar sowohl spezifische Fachkenntnisse als auch allgemeine Grundkenntnisse, sagen viele Personalverantwortliche.
„Ob der Junge eine Drei oder Vier in Mathe hat, ist mir egal“, sagt der Ausbildungsleiter der Neptun Werft in Rostock, die zu den besten Ausbildern im Nordosten Deutschlands zählt. Wichtiger seien Haltung, Motivation und Vorstellungen der jungen Leute. Die Ansprüche sind bei vielen Berufssuchenden durchaus konkret. Neben dem sicheren Arbeitsplatz und einem guten Gehalt wünschen sich viele flexible Arbeitszeiten, Freizeitangebote und Entfaltungsmöglichkeiten — oft bevor sie etwas geleistet haben.
Darauf lassen sich die Unternehmen immer öfter notgedrungen ein – oder gehen weit darüber hinaus, um Bewerber zu ködern und zu halten: Sie bieten gesellige Azubi-Fahrten an wie etwa der Schokofabrikant Alfred Ritter, bieten Zeit für gemeinnützige Projekte, Auslandsaufenthalte oder Events für die ganze Familie. Die Firmen entfalten viel Kreativität und lassen sich die Premium-Bindungsprogramme einiges kosten.
Während die Personalverantwortlichen den Nachwuchs bei Laune halten, müssen die Ausbilder mit dem drastischen Wandel der Arbeitswelt Schritt halten. Der Megatrend Digitalisierung verändert komplette Produktionsmethoden, Organisationen und Routinen. Das hat auch Auswirkungen auf die Ausbildung. Neue Technologien erfordern andere Fähigkeiten, ermöglichen ganz neue Lehrmethoden.
Beim Automobilzulieferer Continental etwa haben die Azubis den neuen 3D-Drucker, mit dem ihre Ausbilder selbst kaum Erfahrung hatten, kurzerhand selbst in Betrieb genommen. Beim Pharmakonzern Merck sind seit diesem Jahr alle angehenden Pharmakanten und Laboranten mit Tablets ausgestattet und damit vielen Kollegen in den Werken technologisch deutlich überlegen.
Die Ausbildung im Betrieb steht zwar für ein eher tradiertes Weitergeben des Wissens vom Meister zum Lehrling. Doch auch hier findet ein Wandel statt: Continental etwa legt viel Wert darauf, dass die Azubis von vornherein ermutigt werden, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. Das wird nicht nur theoretisch in einer Art Montessori-Pädagogik vermittelt, sondern auch in der Praxis: Die Anfertigungen der angehenden Kfz-Mechatroniker werden heute schon in der Produktion verwertet.
Gut drei Viertel der Unternehmen haben in der Studie angegeben, dass es in den vergangenen fünf Jahren Veränderungen gegeben hat – bei den Ausbildungsarten, den Lehrmethoden oder auch ganz neuen Berufen, um vor allem den großen Bedarf an IT-Know-how zu decken.
Das spürt auch Henrik Köhler an seinem Hightech-Arbeitsplatz im Flugkontrolltower. Aber genauso viel Spaß macht es ihm dann, zwischendurch mal ganz praktisch Hand anzulegen: beim Ölwechsel auf den Radarantennen.