Eigentlich ist diese Erkenntnis nichts Neues, wenn man bedenkt, dass von verschiedenen Medien bereits öfter reklamiert wurde: Bei der modernen Verwaltung im Rahmen der Digitalisierung sind wir europaweit auf den hinteren Plätzen zu finden. Peinlich für die lange Regentschaft von Angela Merkel, die dieses schwere Versäumnis mit auf ihre Kappe nehmen muss. Denn laut einer aktuellen McKinsey-Studie verschenke Deutschland so eine Menge Potenzial, was einem Gegenwert von 500 Millionen Euro jährlich entspricht. Der Weg zur Fertigstellung des Programms „Digitalisierung 2020“ ist noch lang, obwohl seit 2014 bereits daran mit „Hochdruck“ herumgewerkelt wird.
Ein Sitz im Normenkontrollrat ist nicht der heißeste Job im Regierungsviertel. Das Beratergremium ist beim Kanzleramt angesiedelt, sitzt aber in einem Gebäude jenseits der Spree. Einmal im Jahr gibt es einen Fototermin mit der Kanzlerin, wenn der Vorsitzende den Jahresbericht übergibt. Am Donnerstag bekam Angela Merkel den jüngsten Report; er belegt den desolaten Zustand der digitalen Verwaltung.
Deutschland ist hinteres Mittelmaß in Europa, und das schon seit Jahren. Angela Merkel, die bereits an ihren Nachruhm denkt, sollte den Bericht genau studieren. Während ihrer Regentschaft sind Länder wie Dänemark, Österreich oder Spanien weit vorausgeeilt. Für die Kanzlerin gab es immer Wichtigeres zu tun: den Euro, Griechenland, Horst Seehofer. Digitalisierung betrachtete Merkel zu lange als Gedöns, und möglicherweise wird das einmal als größtes Versäumnis ihrer Amtszeit gelten.
Dabei geht es nicht einmal um die etlichen Milliarden, die eine vernünftige digitale Verwaltung jährlich sparen würde. Der Reformstau berührt das Verhältnis von Bürger und Staat in seinem Kern — und er gefährdet die Zukunft des Landes insgesamt. Heute kann jeder das Leben über sein Smartphone organisieren, vom Urlaub bis zum nächsten Arzttermin. Nur der Kontakt mit der Verwaltung läuft zu oft noch wie vor Jahrzehnten: Ordner, Stempel, Wartezeiten — immer wieder dieselben Angaben auf jedem neuen Antragsformular. Insbesondere Jüngere haben dafür kein Verständnis. »Wo bleibt der Digitale Staat?«, fragen die Medien. Gute Frage.
Aus Sicht der Wirtschaft ist der Rückstand ebenfalls ärgerlich. Die Regierung drängt die Unternehmen, sich besser auf das Digitalzeitalter einzustellen, und fordert höhere Investitionen in den Breitbandausbau und die Industrie 4.0, um international nicht den Anschluss zu verlieren. Sie selbst indes kommt damit seit mehr als einem Jahrzehnt kaum voran — und das in einem der wenigen Politikbereiche, den sie selbst maßgeblich steuern könnte. Wie glaubwürdig kann da ihre Digitalpolitik insgesamt ausfallen?
Man kann dieses Versagen durchaus als historisch bezeichnen. Die preußischen Verwaltungsreformen waren einst die Blaupause für ein modernes Staatswesen, Elemente daraus wurden in alle Welt exportiert. Die Zuverlässigkeit der hiesigen Bürokratie zog und zieht Firmen aus aller Welt an. Doch inzwischen gilt der Ministaat Estland als Modell für eine zeitgemäße, smarte Staatsführung — und nicht Deutschland.
Die Bundesregierung beteuert, sie habe das Problem erkannt: Bis 2022 sollen Bürgern und Unternehmen 575 Verwaltungsleistungen digital zur Verfügung stehen, der Bund allein lässt sich das sogenannte Bürgerportal 500 Millionen Euro kosten. Das Versprechen einer smarten Verwaltung fehlt in keiner Digitalisierungsrede Merkels.
Das Problem ist nur: Solche Versprechen gab es häufig. Schon im Jahr 2001 erklärte Gerhard Schröder, bald müssten die Bürger nicht mehr zu den Ämtern laufen, die Daten kämen vielmehr zu den Bürgern. Das ist 17 Jahre her, und passiert ist nicht viel.
Der Normenkontrollrat hat erhebliche Zweifel, dass es künftig besser läuft. Nach wie vor fehle das notwendige qualifizierte Personal, und wichtige Bundesländer wie Bayern, Nordrhein Westfalen und Baden-Württemberg brächten sich bei den aktuellen Vorbereitungen für das geplante Bürgerportal nicht ausreichend ein. Das Thema müsse endlich auf allen Ebenen Chefsache werden, mahnt der Vorsitzende des Normenkontrollrats, Johannes Ludewig. Damit hat er recht, vor allem gilt das für die Kanzlerin. In Österreich war es Anfang der Nullerjahre der damalige Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der alle an einen Tisch rief und die Modernisierung vorantrieb. Die Bundeskanzlerin hat einen Digitalrat berufen, eine neue Digitalisierungsabteilung im Kanzleramt eingerichtet und auch einen Kabinettsausschuss zum Thema. Doch hier muss Angela Merkel selbst Führung zeigen. Sie sollte Bund, Länder und die Kommunen, die den Großteil der Verwaltungsleistungen erbringen, endlich auf das gemeinsame Ziel verpflichten. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Wenn sie sich nicht aufrafft, werden ihre Regierungsjahre als diejenigen in die Geschichte eingehen, in denen Deutschland digital den Anschluss verpasste.