Während der Proteste der Corona-Leugner in Berlin wurden nationalistische Reichskriegsflaggen vor dem Bundestag geschwenkt. Politiker aller Parteien sind bestürzt.
Die Deutschen sind sich der neuen Gefahr durch die „Alles-wieder-wie-vorher“-Infektionszahlen bewusst. Doch es stellt sich zunehmend eine Müdigkeit ein, mit welcher die Deutschen den Beschränkungen während der Pandemie begegnen. Doch gerade von Urlaubsrückkehrern gehen erneut hohe Infektionszahlen aus und das Coronavirus verbreitet sich wieder erneut in Deutschland. So passt die Wut über die noch wichtigen Corona-Maßnahmen und dem aktuellen Infektionsgeschehen nicht zusammen. In Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Arztpraxen wird sich die Lage in den nächsten Wochen während der kalten Jahreszeit noch weiter zuspitzen.
Zwei Tage nach der kontroversen Demonstration vor dem Berliner Bundestag gegen die Corona-Politik läuft nun die Aufarbeitung der Geschehnisse. Über 38.000 Teilnehmer soll der Demonstrationszug groß gewesen sein, als dann plötzlich 300 Menschen mit Reichsflaggen auf die Treppen des Bundestages stürmten. Nur sechs Polizeibeamte schützten zu dem Zeitpunkt den Bundestag. Ein Motiv: Die meisten der etwa 250 Polizisten waren zwischen Reichstag und Tiergarten postiert, aber nicht vor dem Bundestag. Der Bundestag war von einem Absperrzaun geschützt.
Nach dem Durchbrechen der Absperrzäune und dem Schwenken der Reichskriegsflaggen auf den Stufen des Bundestages stellt sich jetzt eine Frage: Muss der Bundestag nicht komplett anders geschützt werden? Am damaligen Bonner Bundestag gab es eine Bannmeile, diese wurde in Berlin abgeschafft. Stattdessen ist die Umgebung des Reichstags ein „befriedeter Bezirk“. So können Demonstrationen immer problemlos abgehalten werden, solange der normale Parlamentsbetrieb nicht behindert wird. Mit großer Wahrscheinlichkeit müssen diese Vorschriften jetzt verschärft werden.
Menschen unterschiedlicher politischer Anschauungen standen bei der Demonstration zusammen und schwangen Fahnen: Regenbogenflaggen, Friedens- und Reichskriegsflaggen. Linke Impf-Skeptiker waren so mit Rechtsextremen gemeinsam unterwegs und skandierten Parolen gegen die aktuelle Corona-Politik. Dabei wurden 316 Menschen verhaftet und 33 Polizisten verletzt. Der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, gab zu bedenken: „Solche Demonstrationen sind für radikale Bewegungen ein ideales Umfeld, um immer mehr Menschen für ihre Ideologien zu gewinnen“, sagte Fiedler der „Rheinischen Post“. „Dort mischen sich Feinde der Demokratie mit Teilen der gesellschaftlichen Mitte, Verschwörungstheorien können so immer schneller um sich greifen.“
Parteiübergreifend wurde danach Kritik über die „Reichstags-Erstürmung“ laut. Viele Politiker zeigten sich fassungslos und betonten, dass es niemals zu diesen Bildern hätte kommen dürfen. Dabei sind die Meinungen der Demonstranten bei der deutschen Bevölkerung gar nicht mehrheitsfähig (88 Prozent) und die meisten Menschen verstehen die Gründe der aktuellen Beschränkungen durchaus und halten sie für genau richtig (60 Prozent). Nur 28 Prozent sprechen sich gegen die Maßnahmen aus.
CDU-Bundesvorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich entsetzt und sagte: „Ich muss sagen, ich bin richtig wütend über das und über die Bilder, die man dort gesehen hat. Dass am Deutschen Bundestag die Reichsflagge wieder weht, das ist etwas, was nicht zu ertragen ist“. Auch Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki ist geschockt von den Bildern: „Es macht keinen Sinn, zuerst das Recht auf Demonstrationen gerichtlich zu erstreiten, um dann den Reichstag – das Herz der Demokratie – zu stürmen“, sagte der FDP-Politiker am Sonntag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. „Ich habe kein Verständnis dafür, dass Barrikaden durchbrochen und Regelbrüche gefeiert werden. Unsere Demokratie lebt davon, dass kontroverse Positionen friedlich und regelbasiert ausgetragen werden können.“ Kubicki sprach den Polizisten seinen Dank aus, „die Schlimmeres verhindert haben“.
„Unsere Demokratie lebt“, sagt Steinmeier. Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. „Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen.“
Auch die Bundesvorsitzende der SPD, Saskia Esken, unterstreicht: „Unser Dank gilt den Polizistinnen und Polizisten, die für unsere Demokratie den Kopf hinhalten und so das Schlimmste verhindern“, sagte Esken der Düsseldorfer „Rheinischen Post“. „Wer diese Demonstration, ihre Organisatoren und ihre Treiber stattdessen als „Corona-Skeptiker“ bezeichnet, wer die Reichstags-Stürmer als ,kindisch schreiende Chaoten‘ verharmlost, der hat nicht verstanden oder will nicht sehen, welche Gefahr von dieser Querfront ausgeht“, stellte Esken klar.
Auch die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, äußerte sich ähnlich: „Es ist inakzeptabel, dass einige Chaoten nach der friedlichen Corona-Demonstration in Berlin die Polizei-Absperrungen vor dem Reichstag durchbrochen haben. Dieses Verhalten ist genauso falsch wie der Missbrauch des Reichstages durch Greenpeace-Aktivisten für ihre Propaganda vor einigen Wochen“, erklärte sie am Sonntag. „Das Gebäude steht für den parlamentarischen Meinungsstreit im Plenarsaal und darf nicht als Objekt politischer Auseinandersetzungen auf der Straße missbraucht werden – egal von welcher Seite.“
Doch was sagt der Querdenken-Initiator Michael Ballweg zu dieser Situation? Auch er distanziert sich von den Reichskriegsflaggen-Demonstranten, die vor dem Bundestag gegrölt haben. Ballweg, welcher die Initiative Querdenken 711 leitet, sagt: „Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun.“
Doch hätte der Bundestag besser geschützt werden müssen? Polizeisprecher Thilo Cablitz verdeutlicht: „Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen.“
Hintergrund: Die Corona-Leugner-Demonstration wurde verboten. Zur Begründung wurde gesagt, dass die Protestierenden oft keinen Mund-Nase-Schutz tragen würden und keinen Mindestabstand einhalten. Außerdem hätten die Demonstranten bereits bei der Demonstration am 1. August alle geltenden Corona-Hygieneregeln vorsätzlich ignoriert. Dies sei ein zu großes Gesundheitsrisiko für andere Menschen. Daraufhin hob das Oberverwaltungsgericht in Berlin das Versammlungs-Verbot noch Sonnabend nachts auf.