Deutschland braucht Leute, die sich nicht wegducken oder anderen nach dem Mund reden, die etwas verändern wollen und sich für Minderheiten einsetzen. Sonst würde im Land so viel Unrecht abgebügelt, dass von Demokratie nicht mehr die Rede sein könnte, sondern nur noch von Demokratur. Eine wie Sahra Wagenknecht, die sich gegen die Politik der etablierten Parteien auflehnt und denen Kontra bietet. Es gibt genügend andere Beispiele in Europa von Leuten, die in der Politik neue Wege gehen, die sich weder von Brüssel noch von der eigenen Politik verbiegen lassen. Dazu zählen neben Macron, Kurz und LePen auch Victor Orban, um nur einige zu nennen: Sie stemmen sich gegen das bequeme Aussitzen von Problemen, gegen das Verschleiern von Realitäten und gegen die Flucht ins „Gutmenschentum“ á la Angela Merkel oder Jean-Claude Juncker (dieser verzögert z.B. eine Einigung im Grenzstreit, statt klare Fakten zu schaffen.)
Nicht alles was sie sagt oder macht ist gut oder schlüssig, aber sie ist unbequem, jemand, der sich nicht gerne unterordnet. Ein Stachel im Fleisch der Partei „Die Linke“. Ein Stachel, der hin und wieder schmerzt und einfach nicht weichen will. Oder jetzt doch? Sahra Wagenknecht, Fraktionschefin der Linken, geht neue Wege. Und zwar abseits des gewohnten politischen Parketts, auf dem sie sich seit vielen Jahren souverän bewegt. Sie gründete zusammen mit Ehemann Oskar Lafontaine (74) die Sammlungsbewegung Aufstehen!, die vor allem jene Bürgerinnen und Bürger ansprechen soll, die sich mit den klassischen Parteien nicht mehr identifizieren können. „Es gibt eine zunehmende Kluft zwischen dem, was die Mehrheit der Menschen will, und dem, was die Regierung macht“, erklärt Wagenknecht auf Nachfrage von GRAZIA. „In der Gesellschaft gibt es seit Langem Mehrheiten für höhere Löhne und Renten und für angemessene Steuern für Großkonzerne. Aber der Wille der Bevölkerung wird von der Regierung nicht umgesetzt. Immer mehr Menschen verlieren daher das Vertrauen in die Politik.“ Sie betont, dass ein vorrangiges Ziel der Bewegung sei, nachhaltigen Druck auf die politischen Eliten auszuüben. „Die Politik muss in Bewegung gebracht werden. Wenn das gelingt, dann stärkt dies auch die parlamentarische Demokratie.“
Die inhaltlichen Schwerpunkte der Bewegung sind allerdings nicht neu. Sichere Arbeitsplätze, Topbildung von der Kita bis zur Universität, bezahlbare Mieten — solche sozialpolitischen Forderungen findet man auch in so manchem offiziellen Wahlprogramm anderer Parteien. Trotzdem haben die Initiatoren von Aufstehen laut Wagenknecht bereits „weit über 60 000 Menschen“ davon überzeugen können, sich auf der Plattform zu registrieren und so ihre Unterstützung zu signalisieren. „Wir hoffen, dass es noch viel mehr werden. Denn je mehr wir werden, desto mehr Druck können wir ausüben, damit die Politik wieder die Interessen der Mehrheit der Menschen umsetzt.“ Und wie will die Bewegung all ihre Anliegen konkret umsetzen? „Es wird ein Gründungsmanifest von Aufstehen geben, das grobe Leitlinien skizziert“, so Wagenknecht. „Aber wir wollen kein Programm von oben herab verordnen, sondern die Sammlungsbewegung soll ihre Inhalte und Aktionsformen selbst festlegen. Je kreativer, desto besser!“
Details erfährt die Öffentlichkeit am 4. September. An diesem Tag wollen Sahra Wagenknecht und ihre Mit-Aufsteher unter anderem die Namen prominenter Gründungsmitglieder öffentlich machen und der Presse die Ziele der Bewegung genauer erläutern. „Wenn der Druck groß genug ist, werden die Parteien, auch im Eigeninteresse, ihre Listen für unsere Ideen und Mitstreiter öffnen“, gab sie in einem weiteren Interview zu bedenken. Doch viele Fragen bleiben . . . Warum bringt sie beispielsweise nicht einfach ihre eigene Partei in Bewegung und sorgt dafür, dass die Linke eben jenen Druck erzeugt, den nun die Bewegung erzielen soll? Geht es ihr wirklich um die Inhalte? Oder bildet Aufstehen viel mehr das Fundament für die Gründung einer eigenen, neuen Partei, in der am Ende Sahra Wagenknecht das Sagen hat? Ganz ähnlich ist es ja bei Frankreichs amtierendem Staatspräsidenten Emmanuel Macron (40) gelaufen: Der frühere Investmentbanker rief 2016 die Bewegung La République en Marche! ins Leben — und die erwies sich als hervorragendes Sprungbrett für die erfolgreiche Kandidatur bei den französischen Präsidentschaftswahlen. Ein Schelm, wer da Vergleiche zieht . . .
Der Linke-Parteivorsitzende Bernd Riexinger (62) kann der Initiative seiner Kollegin jedenfalls nichts Positives abgewinnen. „Das ist kein Projekt der Partei Die Linke. Es ist ein Projekt von Einzelpersonen“, verkündete der Politiker schroff — und heizt damit Spekulationen an, dass sich Wagenknecht und ihre Partei immer weiter entzweien. Auch seitens einiger Wissenschaftler hagelt es Kritik. „Wagenknecht befindet sich auf einem Irrweg. Sie wird mit ihrer Bewegung keine neuen linken Mehrheiten erreichen“, urteilt etwa der renommierte Politologe Ulrich von Alemann (74), Dozent an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf. Das Thema der sozialen Gerechtigkeit, das Wagenknecht in den Fokus rücken wolle, sei auch durch die SPD, die Linke und die Grünen seit Langem besetzt, so der Wissenschaftler. „Es ist verwegen, zu glauben, eine neue Bewegung könnte diesem Thema plötzlich grundlegend besser zum Durchbruch verhelfen. Das ist entweder naiv. Oder aber es ist Ausdruck eines Egotrips von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine.“
Harte Worte — und bei Weitem nicht die einzigen, die sich gegen Sahra Wagenknecht persönlich richten. Doch an der erfahrenen Politikerin prallt derlei Kritik offenbar ab wie Regenwasser von einer Lotusblüte. „Mit solchen Vorwürfen soll die Bewegung diskreditiert werden“, kontert sie. „Aber ich denke nicht, dass das gelingt. Es geht nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern um die Menschen in diesem Land und um unsere Zukunft. Und hinter Aufstehen stehe ja nicht nur ich, sondern eine Reihe namhafter Persönlichkeiten — und ich kann Ihnen versichern, dass die ganz bestimmt keinen Fanclub aufbauen wollen.“ Ob Sahra Wagenknecht die stets wachsende Politikverdrossenheit der Menschen in Deutschland tatsächlich kurieren und neues Interesse an der Mitgestaltung entfachen kann — das wird sich erst noch zeigen.
Doch eines hat die seit 2009 im Bundestag sitzende Politikerin definitiv schon jetzt erreicht: Es wird wieder verstärkt über Politik diskutiert. Und das, immerhin, kann bereits als Erfolg gelten.