Nach dem milliardenschweren Bilanzskandal hatte der Finanzdienstleister Wirecard am Dienstag, den 23.06.2020, Insolvenz anmelden müssen. Die Aktie des Tech-Unternehmens stürzte daraufhin ins Bodenlose.
Der Vorstand hatte am Dienstagmorgen entschieden, beim Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu stellen. Der Grund: Laut Aussagen des Unternehmens drohen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. Dabei müsse außerdem geprüft werden, ob auch die 50 Tochtergesellschaften davon betroffen seien und Insolvenzanträge stellen müssen. Mit dem Aufstieg des Finanzdienstleisters in den Dax 2018 stand dem Erfolg zunächst nichts mehr im Weg. Doch mit der Insolvenz und dem Aktienabsturz steht Wirecard nun vor der Pleite.
Nachdem der Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) dem Konzern vor gut einer Woche den Jahresabschluss verweigerte, kamen deutliche Hinweise auf finanzielle Ungereimtheiten ans Licht. In der Jahresbilanz von Wirecard fehlen 1,9 Milliarden Euro auf zwei philippinischen Bankkonten. Der Vorstand gab an, dass ein Guthaben in dieser Höhe vermutlich gar nicht existierte. Der Staatsanwalt München wirft dem Ex-Chef des Konzerns, Markus Braun, vor, mit anderen Beteiligten die Bilanzen und den Umsatz gefälscht zu haben.
Bereits seit 2018 berichten Zeitungen wie die britische „Financial Times“ (FT) über offene Fragen zu einer möglichen Marktmanipulation und finanzielle Unstimmigkeiten. Aufgrund der kritischen Berichterstattung der FT bricht die Wirecard-Aktie Anfang 2019 zuerst einmal um mehr als 20 Prozent ein. Auch hierbei gab es erneut Vorwürfe der Fälschung von Verträgen und unrechtmäßigen Geldströmen, die das Unternehmen dementierte und als falsche Behauptungen deklarierte. Auf die Klage von Wirecard wegen falscher und irreführender Berichterstattung reagierte die FT mit weiteren Berichten zum Dax-Konzern und auffälligen Umsätzen über externe Bezahldienste. Bei der Überprüfung von Partnerfirmen gäbe es Ungereimtheiten mit sogenannten Drittpartnergeschäften, stellte sich seinerzeit heraus.
In Ländern, wo der Konzern über keine eigene Lizenz verfügte, zog er Drittpartner zur Zahlungsabwicklung hinzu. Laut den Unterlagen waren drei der Partnerfirmen für den Großteil der Unternehmensgewinne verantwortlich: Eine Firma namens „Al Alam“ aus Dubai, „Pay Easy Solutions“ aus Manila und „Senjo“ aus Singapur. Vergangenes Jahr wurde dem Partner in Singapur Verstöße und finanzielle Unstimmigkeiten vorgeworfen, die aber im Ergebnis nicht hinreichend bewiesen wurden. Vor diesem Hintergrund verstrickte sich Wirecard Ende letzten Jahres in weitere Widersprüche.
Hinzu kam der sich zuspitzende Streit zwischen der kritischen Berichterstattung der FT und Wirecard. Das Unternehmen wirft der Zeitung „ungenaue, irreführende und diffamierende“ Berichterstattung vor, um den Aktienkurs zu beeinflussen. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) schaltet sich im April 2019 ein und erstatte Anzeige gegen FT-Reporter und Börsenhändler mit dem Vorwurf der Marktmanipulation. Wirecard verlangte von der FT, keine kritischen Artikel mehr zu veröffentlichen. Die FT wehrte sich erfolgreich gegen die Vorwürfe und stellt die Ermittlungen nicht ein. In einem neuen Artikel nehmen sie einen weiteren der drei dubiosen Partner ins Visier – Al Alam. Interne Unterlagen könnten angeblich belegen, dass die Transaktionen über diesen Partner gefälscht seien. Das würde laut FT auf aufgebauschte Umsätze und Gewinne hinweisen.
Die KPMG veröffentlichte Ende April 2020 einen Sonderprüfungsbericht, nachdem sie von Wirecard beauftragt wurde, eine unabhängige Überprüfung der Vorwürfe der FT vorzunehmen und kommt zu dem Schluss, dass die Umsätze aus den Drittpartnergeschäften weder bestätigt noch widerlegt werden können. Weiterhin weist die KPMG darauf hin, dass während der Untersuchung Dokumente verspätet oder gar nicht eingereicht wurden und dadurch die Prüfung behindert wurde.
Den Gipfel des Eisbergs erreicht das Unternehmen Mitte Juni, als EY den Jahresabschluss 2019 nicht testieren wollte, da wichtige Nachweise über Bankguthaben auf Treuhandkonten auf den Philippinen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro fehlten.
Abgesehen von der Tatsache, dass ein Dax-Unternehmen einen Teil der Bilanzsumme auf den Philippinen lagerte, erregte das Verschwinden des Treuhänders, Mark Tolentino große Aufmerksamkeit. Der philippinische Anwalt war zunächst noch für Fragen auf Social Media Plattformen präsent gewesen. Seit der Bekanntgabe des Wirecard-Skandals ist Tolentino jedoch abgetaucht und nicht mehr zu erreichen.
Kurz darauf trat der CEO, Markus Braun, nach fast 20 Jahren an der Spitze des Unternehmens zurück. Am Montagabend wurde Braun in Untersuchungshaft genommen und gegen eine Kaution in Höhe von 5 Millionen Euro wieder entlassen, während die Ermittlungen weiterlaufen. Die BaFin äußerte sich kritisch zum Wirecard-Skandal und gab an, nicht effektiv genug nachgeforscht zu haben. Die Politik fordert nun Konsequenzen für die BaFin, die ihrerseits lediglich einen Prüfer abgestellt hatte, um die Unregelmäßigkeiten bei der Gesellschaft zu untersuchen. Dieser jedoch soll mit dem Umfang der Recherchen und Prüfungen völlig überfordert gewesen sein.