Mein jüngster Roadtrip sollte durch den Shenandoah National Park in Virginia führen, 150 Kilometer, gesäumt von Haltebuchten mit spektakulären Aussichten und herbstlich gefärbten Bäumen. Am Wochenende herrscht dort Hochbetrieb. „Oh, Sie kommen aus Deutschland?“, fragte die Parkwächterin am Eingang, als sie meinen Akzent hörte. Dann schwärmte sie von ihrer Zeit in Ulm und dem dortigen „Monster“ (nicht von einem Ungeheuer, sondern dem Münster). Hinter mir wuchs die Schlange der wartenden Autos, während die Wächterin immer neue Erinnerungen hervorkramte. Niemand hupte. Null Anzeichen von Ungeduld.
In den USA hat – eigentlich alles seinen Preis. Der Umgang mit Geld ist unverbrämt und unverstellt. In jedem Gespräch, das man mithört, fällt unweigerlich das Wort Dollar. An der Hotelrezeption fragt der im BMW angereiste Manager nach einem Rabatt. An Autobahnbaustellen warnen Schilder, dass „das Töten eines Arbeiters“ 7 500 Dollar kostet (und 15 Jahre Haft). Wer eine Wohnung mieten will, zahlt 50 Dollar „Bewerbungsgebühr“, um in die engere Wahl zu kommen.
Nur eines scheint nichts zu kosten: Zeit. Amerikaner warten immer, überall und geradezu lustvoll. Auf das Waffeleis 25 Minuten, auf das Fast-Food-Sandwich eine Stunde. Wer ins Theater will, steht einmal um den Block Schlange. Hotline-Mitarbeiter warten geduldig am Telefon, während Kunden Geräte neu starten und verkabeln. An der Haltestelle für den Bus von New York nach Washington stellt man sich ordentlich in drei Gruppen auf. Nach zehn Minuten unter sengender Sonne verständigen sich die Wartenden darauf, die Formation in gleicher Aufstellung in den Schatten zu verlegen. Im Restaurant wird die rituelle Frage „How are you?“ vom albanischen Kellner mit der Schilderung seiner wechselvollen Lebensgeschichte beantwortet. Niemanden stört’s, dass der Service solange stillsteht.
Ein Washingtoner Restaurantbesitzer erzählte neulich stolz, dass seine Kunden draußen auf dem Gehweg auf mitgebrachten Stühlchen warten — wer das von sich sagen könne, habe es als Gastronom geschafft. Die Stadt Seattle hat das Warten gleich zur Kunstform erklärt. Dort fingen gelangweilte Schlangesteher vor dem Theater an, Kaugummis auf eine Wand zu kleben. Vor der wuchernden Ekel-Collage lassen sich heute Hochzeitspaare fotografieren. Dieses Wochenende fahre ich nicht raus. Wir wollen bei Rose’s Luxury essen, einem Restaurant um die Ecke, das keine Reservierungen annimmt. Es öffnet um 17 Uhr, aber wer im Lauf des Abends einen Tisch bekommen will, kommt besser deutlich vor 15 Uhr. Ellen aus der Nachbarschaft hat angeboten, das Anstehen für mich zu übernehmen – für 21 Dollar die Stunde. Warum auch sollte das Warten nichts kosten?