Wer die Räume des Softwareunternehmens Celonis SE unweit der Münchener Theresienwiese betritt, merkt gleich, dass die Chefs wenig Wert auf Äußerlichkeiten legen. In einer schmalen Glasvitrine im Eingangsbereich der Allerwelts-Büroetage stehen die Urkunden, Trophäen und Zertifikate viel zu dicht, um zur Geltung zu kommen: unter anderen der Service Desk Award 2010, der TUM Presidential Entrepreneurship Award 2015, der KfW Award 2016 Gründer Champions oder der Innovationspreis-IT 2016 der Initiative Mittelstand. Dazwischen liegt ein kleiner blauer Stoffdelfin.
Keine Frage, die drei Gründer sind durchaus stolz auf ihre Preise. Aber die Zurschaustellung der Erfolge scheint auf ihrer Prioritätenliste nicht weit oben zu stehen. Sie haben sich ja noch nicht einmal darum gekümmert, bei Wikipedia eingetragen zu werden.
Sie, das sind: Bastian Nominacher, 32, Finanz- und Europachef, Martin Klenk, 30, Technikchef, und Alexander Rinke, 28, Nordamerikachef mit Büro in Manhattan. Der erste Chef ist Wirtschaftsinformatiker, der zweite Informatiker, der dritte Mathematiker. Gemeinsam haben sie vor sechs Jahren als Studenten Celonis gegründet, eine SoftwareSchmiede, die alltägliche Abfallprodukte des IT-Einsatzes zu unternehmerischen Wertstoffen veredelt. Mit ihren Programmen kann man nach wiederkehrenden Problemen in Unternehmen fahnden, zum Beispiel, wo und warum es in der Lieferkette hakt.
IT-Abfall wird unternehmerischer Wertstoff
Kennengelernt haben sich die drei 2010 im Verein Academy Consult, einer studentischen Unternehmensberatung. Bei einem gemeinsamen Seminar hörten sie das erste Mal von der damals noch neuen Disziplin „Process Mining“. Im Zentrum stehen dabei all jene digitalen Spuren, die ein Geschäftsprozess in einem IT-System hinterlässt, also zum Beispiel die Verbindungsdaten von Telefonaten, hinter denen auch die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung her sind.
Doch während Sicherheitsbehörden wissen wollen, wer wann von wo aus wie lange mit wem Kontakt hatte, gilt die Neugier der Wirtschaftsinformatiker Ineffizienzen, Leerlauf, Zeitverschwendung, überlangen Reaktionszeiten oder gar Hinweisen auf Korruption. Die Münchener Studenten erkannten hier eine Marktlücke.
Die um 2010 handelsüblichen Big-Data-Analysewerkzeuge erschienen ihnen allerdings untauglich, um Performance-Problemen auf den Grund zu gehen, wie sie etwa einen ihrer Kunden, den IT-Service des Bayerischen Rundfunks, plagten. „Das war fast so, als versuche man, eine Schraube mit einem Hammer in die Wand zu hauen. Es geht irgendwie, aber richtig halten tut’s nicht“, erzählt Bastian Nominacher.
Aber es gab wissenschaftliche Abhandlungen von der TU Eindhoven. Der dortige Informatik-Professor Wil van der Aalst gilt als international führender Theoretiker auf dem Gebiet des Process Mining. „Wir haben seine Erkenntnisse einfach praktisch umgesetzt“, sagt Nominacher mit einer Selbstverständlichkeit, als sei das nur eine Frage des Wollens und nicht auch des Könnens gewesen.
Im Juni 2011 beantragte das Trio über die Uni ein „Exist“Gründerstipendium — das war die Geburtsstunde der Celonis GmbH. Im Gegensatz zu anderen IT-Start-ups verschwendeten die Freunde keine Zeit mit Frühphasen-lnvestoren å la Samwer und deren an Durchlauferhitzer erinnernden Finanzierungsmodellen. Sie entschieden sich für das BootstrapModell: für die Finanzierung aus laufenden Einnahmen und das Wachstum aus eigener Kraft. Für die Mindesteinlage musste jeder von ihnen genau 4167,50 Euro aufbringen — insgesamt kamen sie so auf die Hälfte des Grundkapitals, das sie auf 25 005 Euro festgelegt hatten. „Wir brauchten nicht viel“, sagt Nominacher, womit er unter anderem den Verzicht auf teure Geschäftsräume meint.
Wie bei Exist üblich, durften die Gründer Arbeitsplätze an der Uni nutzen, als Firmensitz musste anfangs NominaChers Elternhaus herhalten. Mit welchem Ehrgeiz die Gründer ihr Vorhaben angingen, verrät hingegen bereits der Firmenname: Celonis leitet sich von Zelos ab, einer Figur aus der griechischen Mythologie: Der Sohn des Titanen Pallas und der Flussgöttin Styx gilt als Sinnbild für Eifer und Fleiß.
Ihren ersten Preis, den Service Desk Award 2010 in der Kategorie „beste Innovation“, hatten sie schon vor Gründung ihrer GmbH gewonnen. Offiziell ging die Auszeichnung damals allerdings noch an ihren Auftraggeber, den Bayerischen Rundfunk. Jury-Mitglied Ulrich Mohr, seinerzeit im Henkel-Konzern für IT-Governance verantwortlich, lobte die „anspruchs€olle Verbindung von Theorie und Praxis zur effizienten Steuerung einer Service-Desk-Organisation“. Die BegrÜndung klang höchst kompliziert: Die „intelligente Validierung von Kennzahlen zur Einhaltung und Erfüllung von )
Service Level Agreements sowie die Erweiterung der konkreten Steuerungsmöglichkeiten zur bedarfsorientierten Opti mierung der Verfügbarkeit“ sei gelungen. Sollte heißen: Wenn beim Auftraggeber im Sendebetrieb oder in der Verwaltung der Anstalt der Computer streikt, muss schnell jemand zur Stelle sein, der sich der Sache annehmen kann. Und die Software der drei Studenten machte deutlich, warum das längst nicht immer der Fall war.
Bastian Nominacher erklärt das so: „Wenn Sie mit einem IT-System interagieren, hinterlassen Sie eine riesige Menge Spuren. Aus diesen digitalen Fußspuren rekonstruieren wir den Geschäftsprozess.“ Dabei geht es nicht, wie beim DataMining, um unerkannte Zusammenhänge, die in Massendaten verborgen sind, sondern um sich wiederholende Muster, die auf grundsätzliche Strukturen im Betriebsablauf schließen lassen. Die Software, die sie dafür entwickelt haben, heißt Process Explorer. Sie macht alle Abweichungen vom Soll sichtbar — in der Rückschau und bei Bedarf auch in Echtzeit. Außerdem lässt sie sich auf verschiedene Arten Input einrichten. Deshalb interessierten sich bald auch Big-Data-Spezialisten aus anderen Anwendungsfeldern für Process Mining.
Das Lieblingsbeispiel der Celonis-Chefs sind Einkaufsprozesse, auch P-to-P (Purchase-to-Pay) genannt. Dabei zeigt ein virtuelles Kontrollpult, wie hoch der Anteil der Vorgänge ist, die genau nach einem vorgegebenen Schema verlaufen, und wie häufig außerplanmäßige Aktivitäten vorkommen. Das Hauptproblem großer Unternehmen heißt hier Maverick Buying oder wilder Einkauf: Wenn Abteilungsleiter eigenmächtig Waren und Dienstleistungen ordern, werden Rahmenverträge mit Lieferanten nicht ausgenutzt oder die Buchhaltung erhält Rechnungen, zu denen niemand eine Bestellung im System hinterlegt hat.
Die Auswertung einer Viertelmillion Bestellungen mit einer halben Milliarde Euro Auftragsvolumen zeigte in einer Firma, dass knapp 40 Prozent der Orders dem „Happy Path“ folgten, also vom betriebswirtschaftlich optimierten Pfad an keiner Stelle abwichen. Die restlichen 60 Prozent verteilten sich auf 564 unterschiedliche Verläufe. Allerdings entfielen 90 Prozent auf zehn charakteristische Pfade. In jede Variante oder sogar in jeden einzelnen Vorgang kann der Celonis-Anwender hineinzoomen und so ohne die Hilfe externer Berater typische Verhaltensweisen, vielleicht sogar schon erste Hinweise auf deren Ursachen entdecken.
„Wir verkaufen nur das RÖntgengerät“, dämpft Nominacher die Erwartungen. „Es braucht immer noch einen, der die Aufnahmen auswerten kann. Und einen willigen Patienten.“ Die großen Consulting-Häuser sieht der 32-Jährige deshalb eher als Partner denn als Konkurrenten. Im New Yorker Büro, das von Alex Rinke geleitet wird, kÜmmert sich ein Spezialist um die Kontaktpflege zu McKinsey und Konsorten.
Wie vielfältig sich Process Mining einsetzen lässt, mussten auch die drei GrÜnder erst lernen. Weil sie als Erste den Sprung von der Theorie in die Praxis geschafft hatten, waren sie auch die erste Anlaufstelle im Markt. Ein großes Marketingbudget brauchten sie nicht. Einen frühen Großkunden kÖderte Celonis zum Beispiel mit einer fürs B2B-Geschäft eher schrägen Direktmarketing-Aktion: Mette Lintrup, WellBeing-Managerin und in dem damals noch kleinen Team das Mädchen für alles, schickte potenziellen Kunden Werbebriefe mit Antwortkarte und adressierte die Umschläge von Hand. „Was mit der Hand geschrieben ist, landet nicht gleich im Papierkorb“, sagt Nominacher und grinst. Bei Bayer in Leverkusen habe der Revisionsleiter postwendend reagiert. Heute ist der Chemiekonzern einer der Vorzeigekunden.
Das Start-up und der Konzern: Traumpartner
Die Gründer lernten. Dachten sie zunächst, die Kunden würden in erster Linie in befristeten Projekten versuchen, Schwachstellen in ihren Geschäftsprozessen aufzuspüren, merkten sie bald, dass es für die meisten Anwender sinnvoll ist, die Software dauerhaft einzusetzen. Deshalb entschieden sie sich für ein Geschäftsmodell auf Mietbasis.
Dreh- und Angelpunkt bei der Vermarktung ist eine enge Zusammenarbeit mit SAP. Das Trio hatte früh erkannt, dass ein Großteil der auszuwertenden Daten aus Systemen des IT-Riesen kommen würde, und baute daher Schnittstellen zu SAPs Datenbank „Hana“ auf. Schon 2013 — zwei Jahre nach der Gründung — installierte Siemens die Mining-Software und dockte sie an ihr konzernweites SAP-System an. Ein Jahr später arbeiteten bereits 800 Nutzer damit, inzwischen sind es mehr als 4000. Damit, behaupten die Münchener von sich selbst, seien sie die grÖßten Process-Mining-Anwender weltweit. Ihr kleiner Lieferant, der gerade 20 Millionen Euro umsetzt, ist Weltmarktführer. Da SAP selbst nichts Vergleichbares im Programm hat, tritt der Softwarekonzern inzwischen als Vertriebspartner von Celonis auf und bietet den Bayern auf der jährlichen Hausmesse „SAPphire“ in Orlando Zugang zu 20 000 IT-Verantwortlichen aus aller Welt.
Im Schlepptau des großen Bruders zu fahren reicht den ehrgeizigen Hauptaktionären allerdings nicht. Dass die Celonis GmbH in einer gleichnamigen Europäischen Aktiengesellschaft (SE) aufgegangen ist, hat damit zu tun, dass die Bootstrap-Phase vorüber ist: Die Trüffelschweine aus der Investorenszene haben das lukrative Geschäft der digitalen Spurensuche in IT-Systemen längst erkannt.
Im Sommer 2016 waren die drei Jungunternehmer, beraten von ihrem neuen Business Angel Alex Ott, einem ExSAP-Mann, schließlich so weit: Sie schlossen einen Deal mit den Fonds Accel und 83North, die für die Expansion auf dem amerikanischen und dem asiatischen Markt insgesamt 27,5 Millionen Dollar bereitstellten. Die Gründer halten aber noch immer drei Viertel der Aktien und die Stimmenmehrheit im Verwaltungsrat. Daran soll sich vorerst auch nichts ändern, jedenfalls nicht vor dem Börsengang. Ein IPO an der NASDAQ ist für 2020 oder 2021 im Gespräch.
Der Status als Hidden Champion dürfte bis dahin Geschichte sein. Noch ist Process Mining zwar kein Mainstream-Thema in der IT, doch Nominacher sieht mindestens zehn Konkurrenten, die bereitstehen, um das Geschäft zu beleben. Auch an den Informatik-Fakultäten spreche sich herum, dass Process Mining im Kommen sei. Um den technischen Vorsprung zu halten, hat Chefinformatiker Martin Klenk „Celonis PI“ entwickelt, gesprochen wie der Kuchen in Apple Pie. PI steht für „Proactive Insights“ oder „vorausschauende Erkenntnisse“. Statt nur in den Rückspiegel zu schauen, kann der Manager damit seine Prozessdaten auch für vorausschauende Analysen nutzen. Die Neuheit verknüpft das bisherige Process-Mining-Modul mit einer Komponente aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz, sprich: Celonis setzt auf die als „Machine Learning“ bekannten selbstlernenden Algorithmen.
„Das ist das Beste, was ich jemals gebaut habe“, sagt Klenk voller Stolz. Und weil er sich nicht sicher ist, ob sein Gegenüber das nicht doch für zu viel Angeberei hält, fügt er hinzu: „Ernsthaft.“